Ich und die Welt. Individuum und Gesellschaft
Sechs Vorträge von Sylvia Wetzel 1997-2000. 144 S. Berlin 2000
Einführung
- Ferien vom Ich
- Ichstärke und Selbstlosigkeit
- Sehnsucht nach Freiheit
- Dem Fremden begegnen (Auszug)
- Buddhismus und Demokratie
- Visionen und Lebensziele
Auszug aus Kapitel Vier: Dem Fremden begegnen (S.79-88)
Dem Fremden begegnen: Mandala-Prinzip und Herzenswünsche
Vortrag in Bern am 14.5.1999
Dem Fremden begegnen ist unser Thema heute Abend. Einige Gesichter
in diesem Raum sind mir fremd, und einige sind mir sehr vertraut.
Mit den beiden Lamas, deren Bilder hier an der Wand hängen -
Lama Thubten Yeshe und Zopa Rinpoche - gibt es eine lange gemeinsame
Geschichte, auch mit Ueli Minder, der dieses Zentrum ins Lebens rief.
Anstoß zum heutigen Thema ist die zunehmend spürbare Ausländerfeindlichkeit
in Europa. "Wir sind alle Ausländer, irgendwo." hieß
es auf einem Autoaufkleber ende der Achtziger Jahre. Überall
in Europa streitet man darüber, ob die europäischen Staaten
weiterhin Nationalstaaten sind oder ob Einwanderung sinnvoll und notwendig
ist. Diese Debatten werden in Deutschland geführt und in Spanien,
in der Schweiz und in Österreich, überall in Europa. Ich
möchte heute Abend über die Chancen sprechen, die das Miteinander
von Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen bietet und über
die Verunsicherung, die dadurch entsteht. Und ich möchte über
unterschiedliche Strategien sprechen, wie wir mit Fremdem und Fremden
umgehen.
Was ist das Fremde? Was ist das Eigene? Haben Buddhisten überhaupt
etwas zu diesem Thema zu sagen? Es geht ihnen doch darum, alle Gegensätze,
alle Unterschiede anzunehmen? Ist nicht alles relativ? Letztlich sind
wir doch alle verbunden? Es gibt doch letztendlich kein Ich? Unterschiede
sind nur mentale Zuschreibungen? Ist das überhaupt ein Thema?
Dem Fremden begegnen. Mit Unterschieden leben. An den Anfang stelle
ich Fragen, die mir selbst zu diesem Thema kommen und Fragen, die
ich höre.
Wo begegnet uns Fremdes? Im Alltag? In unseren Beziehungen? Bei der
Arbeit? In der Stadt? In der Tram? Im Zug? Im Urlaub? Wie reagieren
wir darauf? Es gibt sicher eine große Bandbreite von dem, was
uns fremd ist und auch eine große Bandbreite von Reaktionen.
Wenn uns jemand in ein koreanisches Speiselokal ausführt, kann
es vielleicht Irritationen bezüglich der Schärfe des Essens
hervorrufen, aber meistens keine großen emotionalen Irritationen.
Wenn man dagegen nachts um ein Uhr zum Hauptbahnhof geht oder wenn
man nachts um halb eins die letzte S-Bahn in Berlin nimmt, kann man,
selbst in Bern oder Zürich, doch etwas seltsame Gefühle
bekommen.
Zwischen Faszination und Abwehr
Wo begegnet uns Fremdes und wie reagieren wir darauf? Man kann ganz
grob zwei oder drei Reaktionsweisen unterscheiden: Es gibt Fremdes,
das wir interessant finden. Da schauen wir gerne hin, da hören
wir gerne hin. Ungewohnte Musik, ungewohnte Speisen. Menschen, die
anders aussehen, aber sehr schön sind. Es gibt Fremdes, das uns
interessiert, das unsere Aufmerksamkeit weckt, das uns sogar fasziniert.
Und es gibt Fremdes, das wir so mögen, daß wir es nachahmen,
wie nach dem Krieg die Kaugummi-Kultur, die Coca-Cola-Kultur usw.
Es gibt aber auch Fremdes, das uns irritiert, vor dem wir innerlich
zurückschrecken, leichte Abwehr verspüren, nicht hinschauen
wollen, vor dem wir uns vielleicht sogar ängstigen. In der dritten
Reaktionsweise bemerken wir das Fremde nicht, wir ignorieren es. Nach
vorsichtigen Schätzungen nehmen wir vielleicht neunzig Prozent
unserer Eindrücke nicht richtig wahr, weil sie uns weder inspirieren
noch irritieren. Diese drei Reaktionsweisen sind die drei Gifte, die
der Buddhismus beschreibt, in starken Worten ausgedrückt: Gier,
Haß und Wahn. Sanftere Termini sind: Anziehung, Abneigung, Gleichgültigkeit
oder Ignorieren.
Wir können weiterfragen: Wie war es in der Kindheit mit dem
Fremden? Mit fremden Gegenden? Mit fremden Kindern? Mit anderen Fremden
zu Hause? Was war faszinierend, inspirierend? Was war irritierend,
ängstigend? Was war uns unheimlich? Mein Elternhaus war ein großes,
dreistöckiges Gebäude. Im obersten Stockwerk, auf dem Speicher,
im Süddeutschen nennt man das Bühne, hatten wir drei Zimmer
ausgebaut. Der Rest war Dachboden. Bis ich elf, zwölf Jahre alt
war, war es für mich immer ein Abenteuer, die letzte Treppe hochzugehen.
Es gab nur eine fünfundzwanzig Watt Birne, um Geld zu sparen.
In der Dunkelheit über den knarrenden Speicherboden zu den Zimmern
zu gehen, machte mir viel Angst. Dunkelheit weckt bei vielen Menschen
Angst. Selbst eine Straße, die man tagsüber sehr gerne
hat, die man kennt, ist nachts eine andere, wenn man die einzige ist,
die da entlang geht und die Schritte hallen.
Strangers are strange
Fremdheit fasziniert und macht Angst. Wir können es kulturell
und sprachlich betrachten. Sehr eindrücklich ist das englische
Wort strange. Strangers are strange. Wörtliche bedeutet
strange fremd oder seltsam. Die Fremden sind komisch, seltsam.
Sollte man das Glück haben, als Ausländerin oder Ausländer
in Amerika eine legale Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, ist man ein
legal alien. Das gleiche Wort wird auch für "Außerirdische"
verwendet. Man wird also in den USA eine "legale Außerirdische".
Es ist interessant, daß diese Formulierung in einem Land benutzt
wird, in dem niemand einheimisch ist, in dem fast alle von ihrer Herkunft
Ausländer sind. Die meisten leben erst in der zweiten oder dritten
Generation dort. Einige wenige zählen sich zur "alten Aristokratie",
die bereits seit sechs und mehr Generationen dort lebt.
Schauen wir uns Sitten und Gebräuche an. In traditionellen Gesellschaften,
und heute noch in den slawischen und romanischen Ländern werden
Fremde geschätzt und willkommen geheißen, zumindest auf
dem Land, in allen von der "modernen Zivilisation" nicht
allzusehr verunsicherten Gegenden. Fremde genießen Gastrecht.
Menschen, die viel durch die Welt trampen, handeln mit Adressen von
Gegenden, in denen die Menschen besonders gastfreundlich sind: "Wenn
du dorthin gehst, kannst du bis zu drei Nächten umsonst übernachten,
und da zwei Nächte. Aber hier muß man schon nach einer
Nacht wieder gehen, sonst sind sie irritiert."
Es gibt immer noch Kulturen, in denen man Fremde wertschätzt.
In traditionellen Gemeinschaften begräbt sogar das Kriegsbeil,
wenn die verfeindete Person oder jemand von ihrem Klan Gast ist. Bei
Richard Wagner kann man diese Szenen musikalisch in sehr eindrücklicher
Form nach erleben. Es gibt auch andere Bräuche. In manchen Kulturen
wird auf die Fremden alles projiziert, was man an sich selber nicht
mag. Das berühmteste Beispiel in Europa sind die Juden, viele
Jahrhunderte lang, nicht nur bei den Deutschen, auch bei den Franzosen,
in den slawischen Ländern.
Einerseits werden Fremde positiv besetzt, aufgewertet und idealisiert.
Manchmal wird das eigene Negative auf sie projiziert. Das durchschaut
man natürlich nicht. Man denkt: "Ich bin gut und die anderen
sind schlecht." Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte
kennen wir alle: Als die ersten Weißen nach Südamerika
kamen, hielt man sie für Götter. Diese "Götter"
haben dann die Herrschaft übernommen, aber allzu himmlisch wurde
das Leben dadurch nicht. Diese alten Sitten und Gebräuche, diese
alten Werte spielen mit, auch in unserem Verhältnis zum Fremden,
zu dem, was anders ist.
Man kann im allgemeinen drei Reaktionen unterscheiden:
1. Idealisieren, bewundern, interessant finden, haben wollen,
aneignen, übernehmen. 2. Abwehr bis hin zum Haß,
bis dahin, daß wir die Fremden zu Sündenböcken machen
und aus unserem Territorium, aus unserem Land vertreiben, bis zu "ethnischem
Säuberungen" an vielen Orten in der Welt. 3. Ignorieren,
nicht bemerken, daß andere anders sind, andere Werte haben als
man selbst.
Das Fremde: Freund oder Feind?
Es gibt eine interessante Erfahrungen mit dem Fremden, die man sowohl
in der Geschichte der europäischen Städte und heute in Amerika
beobachten kann: Wo Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen zusammen
sind, findet Entwicklung statt. Unterschiedliche Menschen inspirieren
sich gegenseitig. Die Intelligenz wird schärfer. Der eigene Horizont
erweitert sich. Man ist Neuem gegenüber aufgeschlossen. Da geschehen
wissenschaftliche und kulturelle Entwicklungen. In Nordamerika kann
man heutzutage beobachten, wie Einwanderer aus asiatischen Ländern
das Klima an den Universitäten verändern.
Wo Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen aufeinanderstoßen
und miteinander umgehen, können sie sich gegenseitig inspirieren.
Die Geschichte vieler Länder lehrt, daß die Zentren der
Entwicklung kosmopolitische Städte waren. Dort wurde Handel getrieben,
und es war selbstverständlich, daß Menschen aus unterschiedlichsten
Kulturen zusammenlebten. Natürlich gab es auch dort Sündenböcke
und ganze soziale Gruppen, die man ablehnte. Ein anderes Beispiel:
An vielen Orten der Welt, so auch hier in der Schweiz, gibt es abgelegene
Gegenden. Wo Menschen immer nur mit ihresgleichen zusammen sind, ist
die Neigung, stur und engstirnig zu sein, sehr groß.
In den Städten, wo unterschiedlichste Schichten, unterschiedlichste
Menschen zusammen sind, auch vom gleichen Kultur- oder Sprachraum,
können sich andere Entwicklungen vollziehen, herrscht größere
Toleranz. Man lernt eher, mit Unterschieden umzugehen. Allerdings
gibt es in der Stadt auch gegenläufige Tendenzen, denn es scheint
eine bestimmte Basis zu brauchen, damit die Begegnung mit dem Fremden
produktiv wird, damit sie lebendig und inspirierend ist.
Was fördert produktive Begegnungen mit dem Fremden? Man muß,
allgemein gesprochen, eine recht stabile innere Basis haben, man muß
das Eigene gut kennen und darin ruhen, damit man das Fremde verkraften
kann. In den heutigen Städten kippt diese Balance. Die Menschen
sind isoliert. Die sozialen Bindungen, die uns traditionell getragen
haben, lösen sich seit zwei, drei Generationen auf: Wohnort,
Blutsfamilie, religiöse Gemeinden, feste Berufs- und Arbeitswelt.
Diese sozialen Netze lösen sich auf, und die Menschen sind verunsichert.
Das scheint negative Reaktionen zu provozieren. Wenn Menschen verunsichert
sind und diffuse Ängste haben, grenzen sie sich gegenüber
Fremden ab.
Eine Öffnung dem Fremden gegenüber ist eher da möglich,
wo man die einzelnen innere Stabilität besitzen. Man fühlt
sich stabil, weil man eine reife Persönlichkeit ist oder weil
die soziale Gemeinschaft, aus der man kommt und in der man lebt, noch
stabil ist, wie auch immer diese Stabilität vermittelt sein mag,
über kulturelle Werte, über einen Sprachzusammenhang oder
über soziale Bindungen verschiedenster Art.
Das Mandala: Zentrum und Peripherie
Ich möchte im folgenden ein Modell aus der buddhistischen Tradition
vorstellen, das uns helfen kann, zu verstehen, wie Identität,
Ich-Stärke und Selbstvertrauen funktionieren, und wie wir gut
mit anderen umgehen lernen. Ich möchte das am Mandala verdeutlichen.
Mandala ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet: Kreis. Ein Mandala stellt
eine Struktur dar. Das Bild dafür ist der Kreis. In diesem Kreis
gibt es ein Viereck. Das Viereck ist eine Art Aufriß von einem
Palast. Im Zentrum des Mandala ist die Gottheit, eine Buddha-Figur..
Das ist die Form des klassisch-tibetischen Mandalas. Es kann sehr
differenziert sein oder sehr einfach. Immer gibt es eine Peripherie,
einen äußeren Bezirk mit einem Rand, und der ist rund.
Im Kreis befindet sich ein Viereck. An den vier Seiten stehen die
Wächter. Die Buddha-Gestalt im Zentrum verkörpert ein bestimmtes
Prinzip, bestimmte Fähigkeiten. Dann gibt es noch Dakinis, das
sind weibliche Gottheiten und Wächter oder Schutzgottheiten.
Wir betrachten jetzt das Mandala als Struktur-Modell. Die ersten
beiden Elemente sind das Zentrum und die Peripherie. Vor zwei Jahren
habe ich in Berlin an einem Kurs bei einer englischen Dharma-Lehrerin
aus der Kagyü- und Nyingma-Tradition teilgenommen, Shenpen Hookham.
Sie hat das Mandala-Modell benutzt, um Persönlichkeits- und Gruppenstrukturen
zu beschreiben. Sie sprach - im Hinblick auf die einzelne Person -
über das Ich-Mandala, (englisch: ego-Mandala), das Praxis-Mandala
und das erleuchtete Mandala. Wir sind selbst ein Mandala, und jede
soziale Struktur bildet ein Mandala.
Auch die Menschen in diesem Raum bilden heute Abend ein Mandala.
Das Zentrum ist vielleicht der Vortrag oder buddhistische Werte, die
für uns im Moment im Zentrum stehen. Manche fühlen sich
mehr miteinander verbunden, weil sie sich kennen oder schon lange
miteinander üben. Andere sind mit Freundinnen oder Freunden gekommen,
die sich mit Buddhismus befassen. Sie stehen eher am Rande. Im Moment
sind wir alle im Mandala des heutigen Vortrags vereint. Es gibt andere,
stabilere Gruppen-Mandalas: Menschen, die zusammen üben. Eine
Familie ist ein Mandala. Die Großfamilie ist ein Mandala. Die
Menschen, mit denen wir in einem Haus wohnen, bilden ein Mandala.
Die Menschen, mit denen wir zusammen arbeiten oder meditieren, bilden
ein Mandala. Die Schweiz ist ein Mandala. Deutschland ist ein Mandala.
Europa ist ein Mandala. Die ganze Welt und das Universum.
Der Herzenswunsch
Das Verhalten von Menschen, Gruppen und Staaten wird bestimmt von
den Werten, die im Zentrum stehen. Es macht einen Unterschied, ob
wir unsere zentralen Werte kennen oder sie sich unbewußt durchsetzen,
ob unsere Werte bloß theoretisch vertreten oder mit ihnen leben.
Gruppen und soziale Netze funktionieren besser, wenn die Beteiligten
zentrale Werte teilen. Allerdings lehrt die Erfahrung, daß soziale
Strukturen beweglicher und lebendiger sind, wenn sie unterschiedliche
Standpunkte aushalten und verarbeiten können.
Wir können uns fragen: "Was steht im Zentrum meines persönlichen
Mandala?" Es ist sehr wichtig, zu wissen, was im Zentrum unseres
persönlichen Mandala steht, denn danach handeln wir. Wir handeln
nach dem, was uns am wichtigsten ist. Wir geraten oft in Schwierigkeiten
und Widersprüche, wenn wir ideologisch, mental bestimmte Werte
formulieren und meinen: "Ja, das ist mir das Wichtigste: Ehrlichkeit,
Freundlichkeit, die Familie, meine meditative Praxis, Erleuchtung,
meine Mitmenschen, das ist mir das Wichtigste. Aber leider habe ich
heute keine Zeit zu meditieren. Ich habe für all das keine Zeit.
Ich muß soviel andere Dinge tun. Ich muß soviel arbeiten,
und habe keine Zeit für das, was mir wirklich wichtig ist."
Das was wir tatsächlich tun, zeigt unsere Prioritäten. Das
Mandala unseres Alltags zeigt deutlich, was im Zentrum unseres Lebens
steht.
Übung: Meine Herzenswünsche
Wir können uns fragen: "Was ist mir wirklich ein Anliegen?
Was finde ich wichtig im Leben? Was sind meine drei
oder vier Herzensanliegen? Was ist mein Herzenswunsch?"
Wir können eine Liste von wichtigen Anliegen erstellen:
Familie, Buddhismus, Meditation, Natur, ausruhen, Geld verdienen,
Hobbys. Wir können leicht prüfen, ob das echte Prioritäten
sind oder nur Phantasien, Ideologie oder Wunschdenken.
Wir fragen uns: Wieviel Platz hatte das, was mir wichtig
ist, letzte Woche in meinem Leben? Im letzten Monat? Im letzten halben
Jahr?
Die nächste Frage ist: Was tue ich den ganzen Tag?
Was habe ich in der letzten Woche getan? Womit habe ich
meine Zeit verbracht? W
Und: Womit verbringe ich meine freie Zeit?
Wenn man feststellt, daß sich diese beiden Listen sehr unterscheiden
- was uns wichtig ist und was wir tatsächlich tun - sind wir
meist nicht sehr zufrieden mit unserem Leben. Wenn die beiden Listen
gut zueinander passen, sind eher mit uns im reinen. Ich kann diese
Übung sehr empfehlen. Ich führe sie mindestens einmal pro
Woche durch, vor allem, wenn ich denke: "Ich habe keine Zeit
zu dem, was mir eigentlich wichtig ist." Es macht einen Unterschied
ob ich einfach denke: "Ich habe keine Zeit." Oder ob ich
merke, daß es ein Gedanke ist, und keine "objektive"
Realität.
Was steht im Zentrum meines Ich-Mandala? Meines Mandala? Meines Alltags-Mandala?
Was wissen wir von dem, was im Mandala passiert? Das, was wir den
ganzen Tag tun, ist das, was im Mandala geschieht. Es ist sehr erhellend,
sich ein Blatt Papier zu nehmen, einen Kreis zu ziehen und in diesen
Kreis ganz kindlich, mit kleinen Symbolen, hinein zu malen - Intellektuelle
dürfen auch Wörter verwenden - was man die ganze Zeit tut.
Man kann unterscheiden, welche Dinge mehr im Zentrum liegen, welche
mehr an der Peripherie.
Dann kann man die anderen Mandalas daneben malen, die Mandalas der
Menschen, mit denen wir zu tun haben.
Kommunikation und Schutz: Dakinis und Wächter
Konflikte entstehen immer am Rande des Mandala. Die Konflikte sind
um so stärker, je weniger wir über die Ränder unseres
Mandala wissen, je weniger wir wissen, was wir denken, was wir fühlen,
was wir machen. Vor allem dann, wenn wir unsicher sind, ob das, was
da geschieht, meine Energie ist oder die der anderen. Wenn wir nicht
wissen, was innen und was außen ist, was zu uns gehört
und was nicht.
Damit wir wissen, was geschieht, gibt es Dakinis und Wächter
oder Schützer. Dakinis sind in der tantrischen Tradition des
Buddhismus Energien, die mit Aufmerksamkeit und Kommunikation zu tun
haben. Es gibt sie auch als menschliche Verkörperungen. In dieser
Form nennt man sie Himmels-Botinnen (tib. Khandro, Skt. Dakini). Sie
haben auch etwas mit Bewegung zu tun. Sie werden als Quelle von Inspiration
angesehen. In der schamanischen Kultur Tibets wird vieles noch im
Außen gesehen, was wir als innere Impulse bezeichnen würden.
Baum-Geister, Dakinis, negative und positive Energien. Sie werden
draußen visualisiert, schon mit der Ahnung, daß sie uns
helfen, das, was sie im Inneren repräsentieren, zu entdecken.
Sie sind aber noch bildhaft außerhalb von uns. Dakinis kommen
und gehen und bringen uns Inspiration. Im Mandala stehen sie für
Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit, die uns hilft, zu merken, was passiert,
körperlich, emotional, gedanklich. Zu merken, was an den Rändern
unseres Mandala an Kommunikation läuft oder nicht läuft.
Dakinis stehen für die Fähigkeit, es schnell zu merken,
nicht erst zwei Wochen später, zum Beispiel, daß ich mich
über X geärgert habe.
Die Qualität der Dakinis in unserem Mandala hilft uns, zu merken,
was in uns vor sich geht. In buddhistischen Begriffen sind das die
vier Grundlagen der Achtsamkeit: 1. Körperliche Empfindungen
spüren; 2. Gefühle registrieren, emotionale Muster und Reaktionsweisen;
3. Grundstimmungen spüren oder Geisteszustände; 4. Gedanken
über uns und die Welt als Gedanken erkennen. Um diese Prozesse
zu bemerken braucht es eine intelligente Energie, das ist Achtsamkeit,
Aufmerksamkeit. Je nachdem, wie wach die Dakinis sind, oder wie wach
oder verschlafen wir durch die Dakini-Energie sind, gibt es vielleicht
nur noch eine intellektuelle Registratur: Wichtigstes Ziel ist Sicherheit.
Ich schalte auf Automatik, rutsche durch den Tag, komme abends nach
Hause, gehe ins Bett und denke: "Huch, war das etwas? Habe ich
heute gelebt?" Manchmal stehe ich im Badezimmer, putze mir die
Zähne und denke: "Ich hab mir die Zähne doch gerade
eben schon geputzt." Dann merke ich, das war heute morgen oder
gestern abend. Je länger ich lebe und je älter ich werde,
um so häufiger passiert mir das. Ich stehe vor dem Spiegel, putze
mir die Zähne und denke: "Das mache ich doch unablässig."
Das ist der automatische Gang, den wir einschalten, der "Autopilot".
Die Qualität unserer Dakinis entscheidet darüber, was wir
von uns und von der Kommunikation mit anderen wissen.
Dann gibt es die Wächter, die Beschützer. Traditionell
werden sie an den vier Toren des Mandala, in den vier Richtungen visualisiert.
Es kommt darauf an, welche Art von Wächtern wir haben, welche
Verhaltensstile sie kennen. Es hängt natürlich mit der Qualität
unserer Dakinis und mit der Qualität unseres Herzenswunsches
zusammen.
Wenn mein Herzenswunsch ist: "Laßt mich alle in Ruhe!
Ich will nicht irritiert werden. Ich will nicht verunsichert werden.",
dann schlafen die Dakinis die meiste Zeit, und meine Wächter
haben vermutlich zwei Reaktionsweisen: "Gefahr! Angriff!! Oder
"Rolladen runter! Hier ist heute geschlossen." Wie wir reagieren,
hängt von vielen Faktoren ab: von unserem Geschlecht, von den
Rollen, die wir spielen und den sozialen Funktionen, die wir einnehmen,
von Mentalität, Schicht, Kultur und den Werten dieser Kultur.
Vielleicht haben unsere Wächter auch nur einen einzigen Stil:
"Du irritierst mich. Waffen raus! Messer! Gewehre! Pfeil und
Bogen!" Es gibt Menschen, die können ganz kleine scharfe
Pfeile abschießen, mit Worten oder Blicken. Andere schlagen
gleich mit der Keule zu. Manche Wächter lächeln unentwegt,
nehmen aber nichts wahr. Solche Menschen möchte ich am liebsten
schütteln: "Hör´ auf zu lächeln. Bewege dich,
sag´ irgend einen normalen Satz.
Wir können ein Blatt Papier zu nehmen, einen Kreis darauf malen
und die Verhaltens-Strategien unserer Wächter kindlich-naiv aufmalen.
Man kann dabei an bestimmte Themen im Leben denken, an bestimmte Problemfelder,
an familiäre oder berufliche Szenen, an politische Gespräche
usw. Wie reagieren unsere Wächter? Beim gestrigen Kurs in Zollikon
gehabt habe ich festgestellt, daß ich manchen Problemen einfach
meinen Rücken zeige und nur nach innen schaue. Mit solchen Problemen
will ich nichts zu tun haben. Es gibt andere Themen, da schaue ich
nach draußen, da möchte ich kommunizieren, mit anderen
Kontakt aufnehmen und hören, was die anderen denken.
Wie funktionieren unsere Wächter? Das bestimmt in hohem Maße
unser Umgehen mit dem Fremden. Wenn wir nichts mitbekommen, wenn unsere
Dakinis schlafen, gibt es vermutlich ein, zwei Strategien. Wenn sich
an den Rändern meines Mandalas etwas sehr schönes bewegt,
ein schöner Sonnenuntergang oder freundliche Menschen, die mir
etwas schönes zum Geburtstag schenken, können meine Wächter
ganz freundlich sagen: "Komm' herein." Es kann aber auch
sein, daß sie sagen: "Jedes Jahr kommst du mit dem gleichen
Geschenk. Kannst du nicht mal was anderes schenken?" Es kommt
also darauf an, in welcher Verfassung wir sind, wie wir das bewerten,
was von außen kommt. Was ist uns davon bewußt? Wie ist
unsere Grundstruktur, unsere Konditionierung?
Auszug aus einem Vortrag im Buddhistischen Zentrum
in Bern am 14.5.1999
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