Der weise Mann in Graz

Von Sylvia Wetzel

Der Dalai Lama kommt nach Graz, und viele gehen hin. Ein großer Mann spricht über große Themen und lehrt große Übungen. Kalachakra, das Rad der Zeit, handelt vom Weltfrieden, der uns allen am Herzen liegt. Was Kalachakra mit dem Weltfrieden zu tun hat – theoretisch und allgemein und im Prinzip -, erfahren wir im nächsten Heft, und dazu wird auch der „beliebteste Mann der Welt“ sicherlich große und weise Worte sprechen. Ich möchte hier auf zwei Aspekte eingehen: Auf die Metapher des Kampfes und auf die Komplexität dieser Lehren. Kalachakra handelt vom Frieden und verwendet die Kriegsmetapher. Diese Lehren beschreiben symbolisch den Endkampf der Guten gegen die Bösen, und sie sind eine buddhistische Antwort auf die Einfälle muslimischer Krieger in Indien im 11. Jh. u.Z. Auch heute noch „kämpfen“ wir für den Frieden. Wir können guten Gewissens und messerscharf schließen, daß es unter Buddhisten nicht um den Kampf gegen äußere Feinde gehen kann, sondern um den Kampf gegen die inneren Feinde, Gier, Haß und Verblendung. Und natürlich wird dieser innere Kampf nicht aus Haß und Abwehr, Angst und Unsicherheit oder gar aus der Suche und Sucht nach Ruhm und Ehre geführt, sondern aus reinen Motiven kämpfen wir gegen die Unwissenheit auf allen Ebenen. Es bleibt aber ein Kampf. Und Kampf ist, mag man es drehen und wenden wie man will, die Lieblingsmetapher patriarchaler Welterlebens. Da wird etwas bekämpft, und dann ist einer Sieger. Zumindest war das bisher so, und kaum ein buddhistischer Lehrer hat den Begriff Kampf und Krieg aus seinem Vokabular gestrichen oder grundsätzlich hinterfragt.

Wollen und sollen sich die Frauen an die Seite der guten Männer stellen, die gegen das Böse innen und außen kämpfen, und sich mit immer komplizierteren Meditationstechniken in den Kampf gegen Unwissenheit stürzen. Immerhin gehören zum vollständigen Kalachakra-Mandala einige Dutzend Gottheiten, die es alle zu visualisieren gilt, natürlich ganz entspannt und im Wissen um ihre Leerheit. Wollen wir das? Nützt das etwas? Brauchen wir den Kampf und diese komplexe Erleuchtungstechnologie? Ich möchte hier als Kontrast eine ganz einfache Übung mit der Metapher des Nährens vorstellen, „die Dämonen füttern“. Die US-amerikanische Meditationslehrerin Tsultrim Allione hat mich zu dieser Übung inspiriert. Es ist eine vereinfachte Form der tibetischen Übung des Abschneidens (chöd), die die tibetischen Lehrerin Machig Labdrön im 11.Jh. lehrte.

Statt uns heldenhaft männlich in den Kampf und Krieg gegen Verblendungen zu stürzen, können wir mit unseren inneren Dämonen reden. Wir können eine kleine Begebenheit der letzten Tage erinnern, in der wir ärgerlich waren oder traurig, neidisch oder verbissen, müde oder unsicher, aufgeregt oder ängstlich, und zwar so deutlich wie möglich. Wo sitzt der Schmerz? Wie fühlt er sich an? Wie sieht der Dämon der Angst, des Ärgers, des Neids aus? Wir fragen diesen Dämon liebevoll: „Was brauchst du? Was willst du?“ Wir können uns auch für Momente in den Dämon hineinversetzen und spüren, wie sich der Mangel genau anfühlt. Dann fragen wir den Dämon noch einmal und hören genau zu, was er sich wünscht. Wir stellen uns vor, daß wir davon übergenug haben. Wir geben dem Dämon oder der Dämonin all die Aufmerksamkeit und Nahrung, Zuwendung und Zärtlichkeit und alles Verständnis, das sie braucht. Sie nimmt mit allen Poren auf, was sie sich ersehnt, und wir geben ihr rückhaltlos und vollständig alles, bis sie vollständig zufrieden und glücklich ist. Jetzt schauen wir, ob sich ihre Form verändert hat und ihr Ausdruck. Am Ende der Übung kontemplieren wir über Leerheit, d.h. wir denken daran, daß weder Dämonen noch Verblendungen, weder wir noch andere, weder der Weg noch das Ziel aus sich heraus existieren. Alles entsteht aus Ursachen und Bedingungen und besteht und verändert sich oder löst sich ganz auf, wenn sie sich verändern. Wir können mit beiden Metaphern – Kampf und Nähren – in Meditation und Alltag experimentieren und herausfinden, was uns dabei unterstützt, Probleme loszulassen und Fähigkeiten zu entfalten. Wir können mit komplizierten und einfachen Techniken üben und schauen, was wie wirkt. Wenn der große weise Mann nach Graz kommt und über „das Rad der Zeit“ spricht, wird er wenig über Kalachakra und viel über seine „Religion der Freundlichkeit“ reden, denn er sagt selbst: „Wenn ich ankündige, daß ich Kalachakra lehre, kommen viele Menschen, und denen kann ich dann die Grundlehren des Buddha, Freundlichkeit und Mitgefühl und die Ethik der Verantwortung, vermitteln.

Veröffentlicht in Ursache & Wirkung. Sommer 2002.
In der Rubrik Frauenservice zum Kalachakra

Zum Weiterlesen: Tsultrim Allione. Transforming Emotions into Wisdom. März 2000