Sieben Schritte zum Erwachen oder die Schule der Tauben

Ein Beitrag von Sylvia Wetzel in: Form ist Leere – Leere Form. Buddhistische Lehrbegriffe 2. Hg. Marianne Wachs. 160 S. Buddhistischer Studienverlag. Berlin 2004

Das Buch enthält Beiträge zum Thema Erwachen, Samadhi und Freude aus Theravada, Zen und indischem Vajrayana von Andreas Hubig, Anagarika Kassapa, Marianne Wachs, Robert Goldmann und Peter Gäng. www.buddhistischer-studienverlag.de

Vorbemerkung

Wenn Menschen über den Sinn des Lebens nachdenken, machen sie sich notwendigerweise Bilder, denn Denken ist unsichtbar. Wir können über Denken nur mit Metaphern der Sinnenwelt sprechen. Wir suchen und finden Bilder, Symbole und Begriffe für unser gegenwärtiges Leben in Unfreiheit und für das künftige Leben in Freiheit. Manche definieren Unfreiheit und Freiheit materiell, andere spirituell. In diesem Beitrag beschreibe ich Sieben Schritte auf dem Weg zum spirituellen Erwachen in der Sprache des Buddhismus. Die Anzahl der Schritte ist meine Idee. Die Erklärungen stammen in erster Linie aus der mündlichen Tradition des tibetischen Buddhismus über die Natur des Geistes. Einige Hinweise kommen aus dem zeitgenössischen indischen Vedanta. Zitate ohne Quellenangabe sind Mitschriften aus Vorträgen, die nicht schriftlich vorliegen.

Der Weg und die Schritte auf dem Weg sind alte Bilder für die innere Entwicklung, für das Erwachen zum wirklichen Leben. Eigentlich geht um sieben unterschiedlich lange Phasen, die sich nach indo-tibetischer Vorstellung über viele Leben erstrecken können. Eine Landkarte gibt uns Orientierung auf dem Weg. Sie hilft uns, wenn wir uns auf den Weg machen. Ich verwende in diesem Beitrag Bilder, Begriffe und Übungen, die sich in meinen Meditationskursen mit Menschen im deutschsprachigen Raum und in Spanien seit Ende der achtziger Jahre als besonders hilfreich erwiesen haben.

Ein großes Anliegen ist mir die genaue Unterscheidung zwischen eigenem Bemühen und müheloser Einsicht. Wenn wir besser verstehen, wo sich Mühe lohnt und wo sie fehl am Platz ist, wird der Weg leichter. Kurz gesagt: Wir können das Feld vorbereiten, die Früchte wachsen von alleine. Wir können uns um die Reinigung von Herz und Geist bemühen. Erkenntnis, Liebe, kluges Handeln entstehen mühelos, wenn die Bedingungen da sind. Glückverheißendes Zusammentreffen (engl. auspicious coincidence) ist eine interpretierende Übersetzung für den buddhistischen Schlüsselbegriff bedingtes Entstehen (S. pratityasamutpada). Mögen diese Überlegungen zum eigenen Üben inspirieren und das Vertrauen in die Kraft der Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit in allen Menschen, in allen Wesen stärken.

Zur Einstimmung: Die Schule der Tauben

Es gibt eine kleine wahre Geschichte, ein psychologisches Experiment aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie illustriert unsere ehrgeizigen und doch so vergeblichen intellektuellen und spirituellen Bemühungen sehr anschaulich. Es waren einmal viele Tauben. Sie lebten in einem Taubenschlag. In diesem Taubenschlag befand sich ein Futterbehälter. Durch einen Zufallsgenerator wurde in völlig unregelmäßigen Abständen Futter ausgeschüttet. Alle Tauben versuchten, ein System zu erkennen, nach dem dieses Futter ausgeschüttet wird. Eine Taube hatte gerade mit beiden Flügeln geschlagen, als die Körner heraus rollten. Sie ging zum Futterbehälter und flatterte wieder mit beiden Flügeln. In rund zehn Prozent der Fälle kam „zufällig“ zu dem Zeitpunkt Futter heraus. Das genügte der Taube, ihr Flügelschlagen als Ursache des Futterwunders zu interpretieren. Eine andere Taube hatte gerade den Kopf nach links gewendet, eine weitere hatte das rechte Bein gehoben, eine andere das linke usw. Jede Taube setze „ihre“ Technik ein, um das Futter aus dem Kasten zu zwingen, und jede glaubte an ihre Technik, weil sie in zehn Prozent der Fälle zum Erfolg führte. Für uns Nicht-Tauben ist es offensichtlich, daß die Tauben-Techniken die Futterausschüttung nicht verursachen können. Das Wunderbare an diesen Techniken ist allerdings, daß sie den Tauben Zuversicht schenken, ihren „Geist“ genügend beruhigen und inspirieren, und so verbringen sie die Zeit zwischen den Fütterungen ohne Angst und unterhalten sich mit ihren Techniken dabei noch gut.
Ganz ähnlich verhält es sich mit den Menschen auf dem spirituellen Weg. Keine noch so esoterische oder berühmte, mentale oder magische, uralte oder moderne, einfache oder komplizierte Technik kann uns die Erfahrung der Buddha-Natur schenken. Kein Mantra, kein heiliger Text, keine Atemtechnik und keine Sammlungsübung kann Einsicht in die Natur des Geistes erzwingen. Die Übungen können aber unseren Geist reinigen und beruhigen, Vertrauen wecken und Herz und Sinn leicht werden lassen. Wir müssen allerdings selbst heraus finden, welche Übungen und Lehren uns beruhigen und inspirieren, und welche Techniken unsere aufgewühlten Emotionen, eingefahrene Muster und rigide Ansichten und Meinungen tatsächlich für einige Zeit zähmen und schließlich durch tiefes Verstehen ganz vernichten oder auflösen helfen.

Durch die geduldige und intelligente Reinigung von Herz und Geist leben wir unser Leben in Würde und sind wach und präsent, wenn das Wunder der Erfahrungen der Buddha-Natur geschieht, und die Körner der Einsicht und Liebe, der Klarheit und Kraft mühelos auftauchen und unser Herz nähren. Das Leben ist ein Wunder, und alles, was wir tun können, ist Herz und Geist auf dieses Wunder einzustimmen. Jede Technik, die uns dabei hilft, ist gut. Und manchmal findet sogar eine blinde Taube ein Korn.

Emaho. Wie wunderbar. Alles geschieht von selbst.
Gendun Rinpoche 1

Überblick über die Sieben Schritte

0. Die Vorgeschichte: Der Geschmack kindlicher Zufriedenheit
1. Samsara: Der Geschmack der Angst
2. Die Sehnsucht nach Freiheit
3. Erwachen: Der Geschmack der Freiheit
4. Den Geist erziehen: Die via negativa
5. Erwachen: Perspektivwechsel
6. Den Geist erziehen: Die via positiva
7. Erwachen: Menschen, Götter, Buddhas

0. Die Vorgeschichte: Der Geschmack kindlicher Zufriedenheit

Am Anfang sind Berge Berge, und Flüsse sind Flüsse. Zen

Bevor uns die Sehnsucht nach Erwachen erfaßt, leben wir mit kindlicher Zufriedenheit. Wir empfinden die kollektiven Symbole und Werte als stimmig. Wir fühlen uns „richtig“ in dieser Welt mit all ihren Höhen und Tiefen. Wir sind ganz „von“ dieser Welt. Religion gibt uns in dieser Phase eine allgemeine Orientierung. Sie lehrt ethische Normen und entsprechende Verhaltensregeln und begleitet unser Leben durch verbindliche Mythen, Rituale und Feste, die wir mit anderen Menschen teilen.

1. Samsara: Der Geschmack der Angst

Tod ist sicher, und sein Zeitpunkt ist ungewiß.
Alles, was geboren wird, stirbt. Jede Begegnung endet mit Trennung.
Es gibt keine letztendliche Sicherheit und Zufriedenheit in dem, was vergeht.
Auf Aufstieg folgt Abstieg
. Tibetisch

Angst hat immer damit zu tun, daß wir uns als Einzelwesen empfinden. Wir sehnen uns nach Geborgenheit und leiden dann unter den Regeln unserer Gemeinschaft. Wir wollen frei sein von einengenden Bindung und genießen für eine Weile ein Leben ohne kollektive Normen und Werte. Doch ohne das Gefühl der Geborgenheit in einem sozialen Netz und in einem größeren Sinnzusammenhang fühlen wir uns abgetrennt, isoliert und unsicher.

Alle Menschen versuchen das Gefühl der Getrenntheit, des Mangels und der Unsicherheit aufzulösen. Wir versuchen es mit materiellen und spirituellen Mitteln. Die buddhistische Tradition spricht von den acht weltlichen Belangen. Wir jagen nach vier weltlichen Dingen, nach Besitz, Status, Zuwendung und angenehmen Gefühlen, und wir flüchten vor ihrem Gegenteil, dem Verlust von materiellem und geistigem Besitz und von Status, vor Zurückweisung und unangenehmen Gefühlen.

Viele religiöse Menschen beten zu Gott, machen Yoga oder üben Meditation, um mehr angenehme Gefühle zu erleben, gesund zu bleiben und sich sicher und geborgen zu fühlen. Christen bitten Gott oder die Jungfrau Maria um Gesundheit, beruflichen Erfolg und eine gute Beziehung. In Indien bringen die Menschen dem Elefantengott Ganesh Gaben dar. Er soll sie vor Hindernissen schützen und ihnen Erfolg bei weltlichen Angelegenheiten bringen. Tibetische Buddhisten rezitieren die Einundzwanzig Verse zu den Einundzwanzig Manifestationen der Grünen Tara, bevor sie eine Reise unternehmen oder morgens ihr Geschäft öffnen. Die Grüne Tara verspricht Schutz vor äußeren und inneren Gefahren und die Erfüllung aller Wünsche. Die japanische Zen-Tradition nennt die weltlich motivierte Übung Bonpu-Zen. Vielen Menschen geht es weder um Befreiung noch um Erwachen. Sie üben Meditation aus weltlichen Motiven, weil sie sich danach erfrischt und klar fühlen, sich besser konzentrieren und regenerieren können und nachts besser schlafen.

Solange wir Religion praktizieren, um uns in dieser Welt wohler zu fühlen, bleiben wir dem Buddhismus zufolge Weltmenschen. Wir sind Weltlinge, solange wir unser Glück im Unbeständigen suchen. Das ist nicht schlecht oder böse. Es funktioniert einfach nicht auf Dauer. Doch brauchen wir in der Regel ein gewisses Maß an körperlichem und geistigen Wohlbefinden, damit wir uns überhaupt für existentielle Fragen interessieren. Erst wenn wir Status und Besitz, Zuwendung und angenehme Gefühlen erlebt und genossen haben, können wir ihre Grenzen spüren. Wer sich einem religiösen Weg zuwendet, weil er oder sie nicht mit dem Leben in der Welt klar kommt, wird auf dem religiösen Weg weiterhin Status und Besitz, Zuwendung und angenehme Gefühle suchen. Wenn wir auf weltlichen Erfolg „verzichten“, weil wir „es nicht schaffen“, gleichen wir dem Fuchs, der die Trauben sauer nennt, die er nicht erreichen kann. In diesem Fall verzichtet der Erfolg wohl eher auf uns als wir auf den Erfolg. Lama Yeshe faßte es so zusammen: „Wer sein weltliches Leben nicht auf die Reihe bekommt, wird auch keinen „Erfolg“ bei der Meditation haben“.

Die tibetischen Traditionen sprechen von dem „kostbaren menschlichen Leben“. Sie beschreiben damit ein Leben mit einem rechten Mischungsverhältnis von Glück und Leid, das uns zum Nachdenken über den Sinn des Lebens motiviert. Weil wir leiden, denken wir über die inneren und äußeren Bedingungen von Leiden nach. Weil wir nicht nur leiden, sondern uns auch häufig wohl fühlen, finden wir den äußeren und inneren Raum, den Mut, die Muße und die Kraft, einen Weg aus dem Leiden heraus zu suchen.
Die buddhistischen Lehren setzen bei diesen Fragen an. Es heißt: Wie nehmen Zuflucht aus Angst vor Leiden und aus Vertrauen in die Drei Juwelen, Buddha, Dharma und Sangha. Wir nehmen Zuflucht, wenn die Angst vor Leiden existentiell wird und wir Vertrauen in ein Ziel, einen Weg und in Menschen fassen, die uns auf dem Weg begleiten können.

2. Die Sehnsucht nach Freiheit

Das kann doch nicht alles gewesen sein? Stoßgebet in der Midlife-Crisis
Higgeldipiggeldipop: Es muß doch mehr als alles geben. Buchtitel
Investieren Sie alles, und Sie werden alles bekommen…
Es ist einfach, wenn Sie ernsthaft sind. Nisargadatta. (Ich bin, 69)

Manchmal ist unser Leben einigermaßen in Ordnung. Wir arbeiten gerne, vertragen uns mit unseren Angehörigen, genießen das schöne Wetter und fühlen uns gesund und munter. Und doch kann es sein, daß uns inmitten dieses relativen Glücks eine diffuse Unzufriedenheit plagt. Manche überfällt diese Unzufriedenheit Ende zwanzig, wenn sie die Ausbildung abgeschlossen und die ersten Jahre im Beruf gearbeitet haben. Wenn die erste große Liebe zerbrochen ist, sich der Prinz mit den goldenen Haaren als Schwätzer entpuppt und die Prinzessin auf dem weißen Pferd plötzlich eine normale Frau mit Launen, Ecken und Kanten wird. Langeweile ist oft die Vorbotin einer Sinnkrise. Manche erleben mit vierzig eine klassische Midlife-Crisis, wenn sie merken, daß die Lebenszeit, die vor ihnen liegt, möglicherweise kürzer ist, als die, die sie hinter sich haben. Bei manchen löst eine äußere Krise existentielle Fragen aus: Eine Trennung oder eine Krankheit, ein Todesfall in der Familie oder ein beruflicher Abstieg.

Manche Menschen werden durch Krisen zynisch, andere üben Extremsportarten, wieder andere probieren Drogen, machen eine Weltreise, suchen eine neue Beziehung oder sehnen sich nach einem Kind. Und manche besuchen in der Phase einen buddhistischen Meditationskurs. Die christlichen Kirchen bieten Meditation an, und hinduistische und buddhistische Zentren, ehrwürdige alte und esoterische neue spirituelle Gruppen haben so ziemlich alles im Programm, was in den letzten zweitausend Jahren Menschen religiös inspiriert hat. Warum geht es bei uns nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch religiös zu wie „im alten Rom“? Der spirituelle Supermarkt ist Ausdruck einer Sinnkrise bei vielen, vielen Menschen im Westen. „Gott ist tot“ bedeutet schlicht, daß die Bilder, die wir uns von „Gott“, dem großen Symbol der Transzendenz machen, für uns nicht mehr stimmen. Wie finden wir heraus, welche religiösen Symbole uns leben helfen? Wir machen uns auf die Suche nach besonderen Erfahrungen und nach einleuchtenden Erklärungen für die Unruhe des Herzens.

Die buddhistische Tradition spricht vom Wunsch oder der „Sehnsucht nach Freiheit“ (tib. nges ´byung. S. nihsarana). Das wird häufig mit Entsagung übersetzt, bedeutet aber wörtlich: Der Wunsch (aus Samsara) herauszutreten. Dieser Wunsch entsteht, wenn wir merken, daß wir im Gefängnis unserer aufgewühlten Emotionen stecken, wenn wir Gier Haß und Verblendung als die Gitterstäbe unseres Gefängnisses erkennen. Ist der Wunsch nach Freiheit stark, wird vieles unwichtig, was bislang spannend war. Die christliche Tradition nennt diese Haltung Entsagung. Entsagung ist aber nach buddhistischer Interpretation erst die Folge eines brennenden Wunsches nach Freiheit von Gier, Haß und Verblendung. In dieser Phase gewinnt die Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha eine neue Bedeutung. Es geht uns nicht mehr bloß um angenehme Gefühle, die wir durch ethisch oder karmisch korrektes Verhalten, ein wenig Entspannung und Konzentration, Höflichkeit und Freundlichkeit zu erreichen hoffen. Wir wollen frei werden von eingefahrenen Gewohnheiten. Wir wollen die Quelle des Glücks und der Freiheit entdecken, auch wenn wir nur vage Vorstellungen haben, worum es dabei geht.

Übungen

Wenn wir unsere Sehnsucht nach Freiheit stärken wollen, können wir das systematisch tun. Die buddhistische Tradition empfiehlt u.a. Nachdenken über Zuflucht aus Angst vor Leiden und aus Vertrauen zu den Drei Juwelen, Buddha, Dharma und Sangha, und über das Netz von Bedingungen, das Erfahrungen bewirkt.

Wenn wir über unterschiedlichen Erfahrungen und Ebenen von Leiden nachdenken, erkennen und verstehen wir unsere Leiden besser, und das motiviert uns zur systematischen Übung. Wenn die Übungen dann wirken, fassen wir mehr Vertrauen zu Buddha, Dharma und Sangha und lassen uns mehr auf die Übungen ein. Je mehr Vertrauen wir haben, desto besser können wir den Lehren zuhören und sie umsetzen. Im Mahayana heißt es, die Aufgabe der Lehrenden ist es, uns zu inspirieren, wenn wir niedergeschlagen sind und uns zu ernüchtern, wenn wir abheben. (Wetzel, Leben, 124-127)

Die drei Arten von Vertrauen (S. sraddha) entsprechen den drei Stufen des Verstehens (S. prajna, tib. shes rab): hören, nachdenken und durch Meditation integrieren. Die Begegnung mit einer Lehrerin oder einem Lehrer kann kindlich-gläubiges Vertrauen in uns wecken und uns zur eigenen Übung inspirieren. Durch Üben und Nachdenken entsteht mit der Zeit vernünftiges Vertrauen, das auf eigenen Überlegungen beruht und schließlich unerschütterliches Vertrauen durch eigene Erfahrung und tiefes Verstehen.

Wir können über die sechs Arten von Leiden aller Wesen in Samsara nachdenken und über die acht speziellen Arten von Leiden der Menschen. Je genauer wir unser Leiden verstehen, desto leichter fällt uns die Übung. (Wetzel, Leben, 101-117)

3. Erwachen: Der Geschmack der Freiheit

Es gibt ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes. Wenn es dies hier nicht gäbe, dann wäre ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Bedingten nicht zu erkennen. Weil es nun aber ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes gibt, deshalb ist hier ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Bedingten zu erkennen. Udana 8, 3. Itivuttaka 43. (Übers. Hecker) 2

Es gibt, oh Mönche, das, in dem es keine Geburt gibt, wo nichts entstanden ist, wo nichts geschaffen ist, nichts bedingt ist. Gäbe es das nicht, in dem es keine Geburt gibt, wo nichts entstanden ist, wo nichts geschaffen ist, nichts bedingt ist, dann gäbe es auch keine Befreiung von dem, was geboren, entstanden, geschaffen und bedingt ist. Aber weil es das gibt, in dem es keine Geburt gibt, wo nichts entstanden ist, wo nichts geschaffen ist, nichts bedingt ist, darum gibt es eine Befreiung von dem, was geboren, entstanden, geschaffen und bedingt ist. Udana 8,3. (Übers. Ama Samy) 3

Form – Leerheit. Leerheit – Form. Form ist nichts anderes als Leerheit, und Leerheit ist nichts anderes als Form.
Herz-Sutra.

In der Mitte sind Berge keine Berge, und Flüsse sind keine Flüsse. Zen

Die wahre Natur ist ewig, freudig, selbstlos und rein. Kanzeon Sutra. Japanisches Zen. 4

Wenn Ihr ganz ungezungen dahergeht, so geht ihr in der Harmonie des Ungeborenen. Bankei (Zen-Lehre, 44)

Es ist zu nah, um es erkennen, es ist zu tief, das Denken faßt es nicht. Es ist zu leicht, daß wir es glauben könnten, es ist einfach zu schön, um wahr für uns zu sein. Kalu Rinpoche, Freie Übersetzung. (Kalu, Dharma, 141)

Der Geist ist einer. Er ist der Keim von allem. / Von Samsara und Nirvana, von allem, was erscheint. / Vor diesem Geist, der dem Wunschjuwel gleicht, verneigt euch. / Denn er bringt die ersehnte Frucht.
Saraha.

Du bist der Ursprung der Welt und auch die Quelle der Freiheit. / Du bringst die Früchte so süß, die alle Sehnsucht still´n. / Du bist das Göttergeschenk, das Juwel aller Wünsche. / Vor dem Einem Geist verneige ich mich. Saraha. Freie Übersetzung. 5

Dieses strahlende Gewahrsein, Geist genannt,
auch wenn man von ihm sagt, es ist, ist es doch nicht.
Es ist die Quelle: Aus ihm entsteht die Vielfalt
aller Seligkeit des Nirvana und aller Leiden des Samsara.
Da es etwas ist, wonach alle sich sehnen,
wird es in allen elf Fahrzeugen geschätzt.
Man kennt es unter unendlich vielen Namen.
Manche nennen es Natur des Geistes oder Geist An Sich.
Die Thirthikas nennen es Atman oder Das Selbst.
Die Sravakas nennen es die Lehre vom Nicht-Selbst
oder vom Fehlen eines Selbst.
Die Cittamatrins nennen es Citta oder Den Geist.
Es heißt Prajna Paramita oder Vollendung der Weisheit.
Es heißt Tathagatagarbha oder Schoß der Buddhaschaft.
Es heißt Mahamudra oder Das Große Symbol.
Es heißt Einzigartiger Bereich.
Es heißt Dharmadhatu oder Bereich der Wirklichkeit.
Es heißt Alaya oder Grundlage von allem.
Und einige nennen es einfach Gewöhnliches Gewahrsein.

Padmasambhava zugeschrieben. 8.Jh. Gefunden von Karma Lingpa im 14. Jh. 6

Wenn wir eine Weile meditieren, erleben wir manchmal Momente der Offenheit, der Klarheit, der Lebendigkeit, und wir wissen, daß das, was wir da erleben, wirklicher ist als alles, was wir kennen. Wir merken in solchen Momenten auch, daß wir diese Erfahrung bereits kennen. Wichtig ist jetzt, daß wir verstehen, daß solche Erfahrungen wie jede andere Erfahrung zwar unbeständig sind, gleichzeitig aber auch Ausdruck der Natur des Geistes. Wir erleben die Natur des Geistes, wenn wir für Momente nicht an dem festhalten, was vergeht. Solange wir uns völlig mit dem identifizieren, was kommt und geht, bleiben wir unsicher, unzufrieden und unklar. Erst wenn wir das entdecken, was „ungeboren und ungeschaffen“ ist, die Natur des Geistes, wissen wir, was Freiheit ist.

Was bedeutet Buddha-Natur oder Natur des Geistes? Die Mahayana-Tradition unterscheidet zwischen Geist und Natur des Geistes. Mit Geist werden die Bewegungen auf der Oberfläche bezeichnet, die unbeständig sind: Sinneswahrnehmung, Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken. Die Natur des Geistes oder die Tiefenstruktur des Geistes ist immer da. Sie ist leer von Zuschreibungen, offen und weit wie der Himmel. Sie ist klar und leuchtend wie die Sonne, die Klarheit, aus der Wissen und Nichtwissen, Achtsamkeit und Schläfrigkeit, Leben und Tod entstehen. Sie ist feinfühlig, warm und lebendig wie die Strahlen der Sonne. Erfahrungen sind wie das Wetter im offenen, lebendigen Raum der Natur des Geistes. Wenn der Geist rein genug ist, d.h. relativ entspannt, ohne Angst und wach und klar, schauen wir nicht nur auf die unbeständigen Erfahrungen, sondern entdecken den offenen, lebendigen Raum des Geistes , der immer da ist.

Die tibetische Tradition beschreibt drei typische Erfahrungen (tib. nyams), die Ausdruck der Natur des Geistes sind: Momente des Nichtdenkens: Sie sind Ausdruck der Offenheit des Geistes. Lichterfahrungen: Sie sind Ausdruck der Klarheit. Seligkeit: Sie ist Ausdruck der Feinfühligkeit. (Shikpo, Achtsamkeit, 15ff) Die Zen-Traditionen sprechen von Wesensschau (jap. kensho) oder Erleuchtung (jap. satori), die Theravada-Tradition von Erfahrung des Nicht-Ich oder Nibbana-Erfahrungen (Pali nibbana, S. nirvana).

Erfahrung und Erkenntnis: Diese Erfahrungen sind hilfreich, denn sie zeigen uns sehr deutlich, daß wir nicht eins sind mit Gier, Haß und Verblendung, nicht eins sind mit den Empfindungen, Gefühlen und Gedanken, die unablässig auftauchen. Sie machen uns Mut und wecken Vertrauen. Alle diese besonderen Erfahrungen vergehen aber auch wieder. Wer sie immer erleben will, wird enttäuscht. Es geht darum, diese Erfahrungen als Ausdruck der Natur des Geistes zu erkennen und zu begreifen, daß es diese Natur des Geistes ist, aus der alles entsteht: Welt und Menschen, Dinge und Umstände, die ganze Welt der Erscheinungen. Es geht beim Erwachen also nicht um besondere Erfahrungen, sondern um das Verstehen, was sie bedeuten. Die gewöhnlichen Erfahrungen von Trauer und Aufregung, Ärger und Zweifel werden weiterhin auftauchen, solange wie es die entsprechenden Muster gibt.

Weitere Überlegungen und Übungen

Das Theravada spricht über Pfad und Frucht. Mit Pfad sind die Nibbana-Erfahrungen gemeint, mit Frucht die daraus folgende Erkenntnis: Das ist das Ungeborene, Ungeschaffene, das die Überwindung des Geborenen und Geschaffenen möglich macht. (Khema, Leben, 202)

Wenn wir die vier Sammlungsstufen (Pali jhana) erleben, begreifen wir, daß wir nicht eins sind mit Gefühlen und Gedanken. Sammlung stärkt unser Selbstvertrauen, erfrischt und belebt. Wir verstehen allerdings auch schnell, daß Sammlung unsere Probleme nicht löst. Wenn wir nur auf dem Kissen Ruhe und Frieden erleben, sind wir lebensunfähig. Deshalb gilt Sammlung zwar als wunderbares als Mittel auf dem Weg zur Befreiung, aber nicht als Ziel und Endzweck. (Khema, Leben, 40ff)

Wir können die drei Aspekte von Buddha-Natur im Alltag erkennen. Selbst wenn wir uns verschlossen und eng fühlen, können wir das nur sagen, weil wir eine Ahnung von Offenheit haben. Das ist Offenheit. In dem Augenblick, in dem wir sagen: „Ich verstehe das nicht.“, scheint Klarheit auf, denn wir wissen genau, daß wir etwas nicht verstehen. Das ist Wissen. Und wenn wir gar nichts fühlen und uns abgetrennt und einsam fühlen, so ist diese Wahrnehmung Ausdruck von Feinfühligkeit, denn diese Gefühle spüren wir ganz genau und ganz nah. (Shikpo, Achtsamkeit, 15ff)

Wenn wir Achtsamkeit für die vier Bereiche üben – Körperempfindungen und Sinne, Gefühle und emotionale Reaktionen, Stimmungen und Gedanken –, erkennen wir mit der Zeit, daß die Fähigkeit zu bemerken, was geschieht und zu erinnern, was wir tun wollen, unmittelbar Ausdruck der Klarheit des Geistes ist. Merken und erinnern geschehen mühelos. Wenn wir Achtsamkeit als Klarheit erkennen, verändert sich der Schwerpunkt der Übungen vom Vordergrund, den vier Bereichen der Achtsamkeit, auf den Hintergrund, die Natur des Geistes.

4. Den Geist erziehen: Die via negativa

Der erfahrene heilige Jünger aber, ihr Mönche, der Heiligen gewärtig, der heiligen Lehre kundig, der heiligen Lehre vertraut… betrachtet den Körper: „Der gehört mir nicht. Das bin ich nicht. Das ist nicht mein Selbst… Er betrachtet das Gefühl…, die Wahrnehmung…, die Unterscheidungen: „ Das ist nicht mein. Das bin ich nicht. Das ist nicht mein Selbst. Buddha, Mittlere Sammlung 22, 136 (Neumann), 22, 15 (Bikkhu Bodhi)

Es gibt nur eine falsche Sicht: Der Glaube, meine Sicht ist die einzig richtige. Nagarjuna.

Das falsche Ich können wir erfahren. Wir suchen es in den fünf Skandhas. Wenn wir es durchschauen, verschwindet es einfach. Und die Kraft, die darin gebunden war, fließt in positive Bereiche. Das wahre Ich ist das Selbst, die Natur des Geistes. Es ist jenseits von Gedanken und Vorstellungen, selig, rein und unwandelbar. Wir können es nie erfahren und beobachten. Dieses Selbst kann man nicht sehen. Es ist das einzige Selbst, aber es ist nicht „ich“. Rigdzin Shikpo (Meditationen, 20).

Sie können die Vollkommenheit nicht erkennen, Sie können nur die Unvollkommenheit erkennen. Nisargadatta (Ich bin, 157)

Wenn wir den Geschmack der Freiheit kennen, wissen wir, worum es auf dem spirituellen Weg geht. Wir können die Erfahrung der Natur des Geistes, wir können alle diese besonderen Erfahrungen durch keine Meditationstechnik herbei zwingen. Wir können aber Herz und Geist durch Meditationsübungen und inspirierenden Texte soweit reinigen, daß wir diese Zusammenhänge immer tiefer verstehen und immer mehr darauf vertrauen, daß es etwas Größeres gibt, etwas Unfaßbares, was unser kleines Leben und das aller Lebewesen trägt. Das Mahayana nennt das die Natur des Geistes.

Vier Stile der Reinigung

Die tantrische Tradition beschreibt vier Stile des Verhaltens von Erwachten im Umgehen mit aufwühlenden Emotionen: befrieden oder beruhigen, bereichern oder inspirieren, kontrollieren oder zähmen und vernichten (aller Verblendungen) durch tiefes Verstehen.. Wir alle wenden diese vier Stile im täglichen Leben an und können sie auch für die Erziehung und Reinigung von Herz und Geist nutzen.

Beruhigen: Wir beruhigen aufgeregte Kinder und Erwachsene durch besänftigende Worte, durch leise Musik, durch einfaches Essen und Ruhephasen. Genauso können wir manchmal unser aufgeregtes Herz durch Stillsitzen und durch Konzentrationsübungen, durch Mantras singen und einfache Bewegungen, die sich wiederholen, beruhigen. Manche Schulen arbeiten vor allem mit Methoden und Techniken, die die Unruhe in Herz und Geist beruhigen.

Inspirieren: Ist unser Herz ruhiger geworden, ist es empfänglicher für die Lehren und heiligen Schriften, für Gedichte und Bilder des Erwachens. Es kann leichter Vertrauen fassen und sich auf den Weg und die Übungen einlassen. Inspiration weckt Energie und gibt Kraft und Zuversicht. Einige Schulen arbeiten vor allen Dingen mit Inspiration: mit Heiligenlegenden, schönen Klängen und Worten. Religiöse Kunst, die Ästhetik von Tempeln und Ritualen dienen vor allem der Inspiration. Einige Schulen betonen vor allem die Bedeutung des persönlichen Lehrers oder der Lehrerin als Quelle der Inspiration.

Zähmen: Sind Herz und Geist so aufgeregt, daß wir auf beruhigende Übungen und inspirierende Worte nicht ansprechen, brauchen wir Regeln. Bei manchen schlechten Angewohnheiten hilft nur ein klares Nein, selbst wenn das nur kurz hilft. Wir können in der Meditation schwierige Emotionen genau und mit allen Sinnen spüren und lernen, sie nicht auszuleben. Wenn wir sie nicht unbewußt und krampfhaft festhalten, lösen sie sich von allein auf. Dazu müssen wir aber zuerst bemerken, wie sehr wir festhalten. Wenn wir in der Meditation über kleine Situationen nachdenken, in denen wir uns geärgert haben, begreifen wir mit der Zeit unsere Lieblingsmuster und entdecken den Raum, in dem sie geschehen. (Wetzel, Leben, 38-45. Wetzel, Himmel, 152-163, 176-179)

Solange uns aufgeregte Emotionen und eingefahrene Ansichten fest im Griff haben, die Konzentration in den Kinderschuhen steckt und unsere Motivation von der aktuellen Stimmung abhängt, profitieren wir von klaren Meditationstechniken und festen Regeln. Wir nehmen uns beispielsweise vor, täglich zwanzig Minuten den Atem oder den ganzen Körper zu spüren, eine bestimmte Strecke zu gehen oder ein Mantra zu rezitieren, und dann machen wir das, ohne weitere Diskussion, für ein paar Monate. Spezielle Meditationstechniken sind meist am Anfang sehr hilfreich, wenn wir noch wenig Erfahrung mit der Meditation haben. Formlose Praxis, Nur Sitzen (jap. shikantaza) oder Ruhen in der Natur des Geistes verwandelt sich nach wenigen Sekunden in Grübeln und Träumen, Schlafen oder Dösen, wenn wir nicht genau verstehen, was wir da machen und nicht ein Minimum an Konzentration und Wachheit haben. Wer systematisches Üben nicht mag oder aushält und stattdessen „im Alltag“ üben will, dreht sich meist im Kreis und stabilisiert eingefahrene Muster. Zähmen durch Regeln und genau festgelegte Übungen ist ein Schwerpunkt fast aller buddhistischen Schulen

„Vernichten“ durch Verstehen: Je klarer wir unsere Muster und Ansichten, Gewohnheiten , Vorlieben und Abneigungen durchschauen, desto weniger Macht haben sie über uns. Alte Ansichten werden immer wieder aufsteigen. Wenn wir ihnen aber nicht mehr glauben, können sie uns nicht mehr täuschen. Wir sind nicht gebunden durch das, was wir sehen, denken und hören, sonder durch unsere Interpretationen und Ansichten, erklärt der indische Meister Tilopa seinem Herzensschüler Naropa. Verstehen ist die ultimative Reinigung. Zentrales Element von tiefem Verstehen ist dabei die Fähigkeit, Gedanken als Gedanken zu erkennen. Wenn wir einmal begriffen haben, daß Gedanken und Gefühle, Gewohnheiten und emotionale Muster geistige Prozesse sind und keine in Stahlbeton gegossene, objektive und greifbare Wirklichkeiten, wird das Leben einfacher. Selbst Zweifel sind lediglich Muster. (Wetzel, Leben, 164-174). Damit wir die subtilen inneren Prozesse jedoch erkennen können und bemerken, wie wir denken und urteilen, festhalten und wegschieben, brauchen wir einen einigermaßen ruhigen und klaren Geist. Dabei helfen uns Übungen, die uns beruhigen, inspirieren und zähmen. Wir müssen allerdings selber herausfinden, was uns beruhigt, inspiriert und zähmt.
Man irrt nicht durch Wahrnehmen. Man irrt durch Anklammern.
Doch wenn der Geist um sein Klammern weiß, ist er frei.
Padmasambhava

Nicht dein Sehen bindet dich, sondern deine Sicht. Tilopa.

5. Erwachen: Perspektivwechsel

Berge sind keine Berge, und Flüsse sind keine Flüsse. Zen
Die leere Natur von Rigpa und ihre Leuchtkraft, die ungetrennt sind, manifestieren sich zu allen Zeiten als Mitgefühl. Sogyal Rinpoche 7

Die wahre Natur ist ewig, freudig, selbstlos und rein. Kanzeon-Sutra. Zen

Wenn Ihr ganz ungezungen dahergeht, so geht ihr in der Harmonie des Ungeborenen.
Bankei (Zen-Lehre, 44)

In der dritten Etappe haben wir den Geschmack der Freiheit erlebt, die Wesensschau (jap. kensho) oder Erleuchtung (jap. satori). Wer „sieht“ da das Wahre Wesen? Wir sagen vielleicht: „Ich“ habe die Natur des Geistes erlebt.“ Oder: Das „kleine“ Ich „erlebt“ Buddha-Natur. Genaugenommen ist der Geschmack der Freiheit die Spiegelung des Großen oder Wahren Selbst bzw. der Buddha-Natur in einem reinen Geist.

Das Auge kann das Auge nicht sehen, heißt es in einem beliebten Bild, so wie das Schwert sich selbst nicht schneiden kann. Wir können aber durch die Tatsache des Sehens begreifen, daß wir Augen haben. Das Schwert „merkt“ durch das Schneiden, daß es eine Schneide hat. Das Kleine kann das Größere nicht begreifen. So kann auch der bedingte Geist die Natur des Geistes nicht „sehen“. Er kann aber verstehen, daß es sie gibt, daß sie das ist, was ihm wahrnehmen und erkennen erlaubt. Die Natur des Geistes kann man nicht „sehen“. Das bedeutet, man kann sie nicht zum Objekt machen. Warum nicht? Sie ist das große Subjekt, das, was erkennt, das, was Wahrnehmen und Verstehen möglich macht. Auf der Suche nach der Natur des Geistes entdecken wir: Das was du suchst, ist das, was sucht. Dann dämmert die tiefe und erlösende Erkenntnis: „Ich bin die Natur des Geistes“. Aber: das Ich, das das erkennt, ist nicht mehr das kleine Ich, es ist das Wahre Selbst, das Große Selbst, Maha-Atman, das man nicht fassen kann.

Perspektivwechsel: Wenn dieses Erkennen aufsteigt, „fühlt“ es sich so an, als ob Buddha-Natur mich „sieht“. „Ich“ fühle mich aufgehoben im Großen Ganzen, verschwinde aber nicht. In einem klassischen Bild heißt es: Jede Welle ist Teil des Meeres. Das bedeutet: Jede Erscheinung ist Teil der ganzen Welt. Und jede Welle ist Wasser, d.h. sie besteht durch und durch aus Buddha-Natur. Man könnte sagen, daß die Welle beim Perspektivwechsel „begreift“, daß sie Wasser ist. Sie bleibt dennoch Welle für den Augenblick, in dem sie erscheint. Sie weiß: Wasser ist „ewig, freudig, selbstlos und rein“ und erscheint als Meer und als Welle. Der bedingte Geist versteht im Anschluß an diese Erfahrung, daß jede Bewegung im Geist, daß dieser ganze Körper-Geist-Komplex, eine Welle im Meer des Offenen Gewahrseins, im Meer der Buddha-Natur ist.

Dieser Perspektivwechsel findet auf ganz undramatische Weise immer dann statt, wenn wir nicht mehr urteilen, sondern „sehen, wie die Dinge sind“. Genau genommen können wir gar nicht aufhören zu urteilen. Solange ein Gefühl von Getrenntheit, ein Ichgefühl da ist, findet Urteilen statt. Das was nicht urteilt, ist das Offene Gewahrsein. Immer wenn mühelos Nichturteilen geschieht, hat der Perspektivwechsel zum Offenen Gewahrsein bereits stattgefunden. Solange sich das Ichgefühl (S. atmagrha, tib. dag dzin) mit dem identifiziert, was kommt und geht, mit dem Unbeständigen, Geschaffenen und Bedingten, gibt es Urteilen und ichhaftes Handeln. Das „kleine“ Ich kann nicht aufhören zu urteilen und zu handeln, weil es immer von einem bestimmten Standpunkt in Raum und Zeit „in die Welt“ schaut. Das ist auch sinnvoll, wenn es darum geht, den Alltag zu bewältigen und anderen Menschen zu begegnen. Dieser kleine Standpunkt kann aber keine absolute Sicherheit schenken.

Der Geist kann nun verstehen, daß jede kleine Identifikation Unsicherheit und Leid verursacht. Er kann verstehen, daß das Ruhen im Offenen Gewahrsein Sicherheit, Glück und Frieden bedeutet. Diese Einsicht bringt den Geist zur Ruhe. Festhalten bemerken und loslassen geschieht dann mühelos. Die Erfahrung des Perspektivwechsels und das Verstehen dieses Geschehens bewirkt angenehme Gefühle. Genauer gesagt: Im Offenen Gewahrsein ruhen löst Angst und Aufregung auf, und das wird als Freude und Frieden erlebt. So wie wir nach einem lauten Fest die Ruhe auf dem Weg nach Hause als Freude und Frieden erleben.

Buddha-Natur und Mitgefühl

Die tibetischen Traditionen betonen an dieser Stelle etwas sehr Wichtiges. Einsicht in Buddha-Natur manifestiert sich notwendigerweise und mühelos als ein Gefühl von Verbundenheit. Sogyal Rinpoche faßte es 1986 auf einem Kurs in Jägerndorf so zusammen: „Die leere Natur von Rigpa und seine Leuchtkraft, die ungetrennt sind, manifestieren sich zu allen Zeiten als Mitgefühl.“ Die Natur des Geistes (tib. sems nyid), Offenes Gewahrsein (tib. rigpa) ist leer, leuchtend und mitfühlend. Das bedeutet: Werden Erscheinungen (der leuchtende Aspekt der Buddha-Natur) als leer (von Zuschreibungen) erkannt, entsteht Mitgefühl. So einfach ist es. Daß ein Gefühl von Verbundenheit offensichtlich nicht ganz so einfach entsteht, können wir den vielen Lehren der tibetischen Tradition über Liebe und Mitgefühl entnehmen.

Das Große Fahrzeug des Buddhismus, das Mahayana, geht grundsätzlich von folgendem aus: „Wer begreift, daß alle Menschen, alle Lebewesen und alles, was erscheint, Ausdruck der Natur des Geistes ist, fühlt sich mit allem und allen verbunden. Diese Einsicht „gebiert“ Bodhisattvas. Bodhisattvas heißen im Mahayana die Übenden, die Erwachen nicht für sich allein, sondern zum Wohle aller Wesen anstreben. Es gibt keinen Vortrag in der tibetischen Tradition, in dem nicht diese große Bodhisattva-Motivation beschworen wird. Das Leben der Bodhisattvas beginnt mit unmittelbarer Einsicht in Leerheit. Es heißt: Je tiefer die Einsicht in Leerheit ist, desto tiefer ist die Einsicht in bedingtes Entstehen. Und diese Einsicht manifestiert sich gefühlsmäßig als Liebe und Mitgefühl für alle Wesen, für alles, was lebt, für alles, was erscheint. Das ist so, weil tiefe Einsicht (S. vipasyana, Pali vipassana) oder Einsicht die Leerheit (S. sunyata) von Zuschreibungen im Mahayana Einsicht in die Natur des Geistes bedeutet. Und die Natur des Geistes gehört weder mir noch dir, denn sie ist die Tiefenstruktur jeder Wahrnehmung jedes Lebewesens im Universum.

Die Frage, ob es eine Buddha-Natur für alle Wesen gibt oder viele unterschiedliche, macht in dem Augenblick keinen Sinn, wo wir sie erleben und verstehen. Denn da gibt nur Offenheit und Freude und kein Zweites. Die Natur des Geistes, seine Tiefenstruktur können wir durch Meditation erleben und verstehen. Dann begreifen wir, daß nicht nur Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken, sondern auch die Vorstellung von einem getrennten Ich und Du Zuschreibungen sind. Damit löst sich das Gefühl der existentiellen Getrenntheit auf, und wenn das nicht mehr da ist, scheinen mühelos Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut auf. Genau das kennen viele Menschen aus besonderen Momenten tiefer Liebe, Hingabe und Freude. Immer noch und immer wieder erscheinen Ich und Welt, Du und Ich, die unendlich vielen Wesen und Dinge in ihrer Einzigartigkeit aus dem Meer von Bedingungen. Das ist die Welt der Form, der Erscheinung. Sie erscheint mühelos und geheimnisvoll aus der Natur des Geistes, aus Leerheit.

Manche Richtungen des Buddhismus und alte und moderne Schulen des indischen Vedanta sprechen kaum oder gar nicht über diesen zentralen Aspekt der gefühlsmäßigen Verbundenheit und Zuwendung zur Welt der lebenden und fühlenden Wesen. Die tibetischen Traditionen aber tun das, und sie lehren viele Methoden, wie wir uns den anderen liebe- und verständnisvoll zuwenden können. Die Tradition wird aber auch nicht müde zu betonen, daß die vier himmlischen Gefühle – Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut – notwendiger und müheloser Ausdruck der Einsicht in Leerheit sind und nicht eine Einstellung, die man zusätzlich durch bestimmte Übungen erlangt. Form ist Leerheit und Leerheit ist Form. Das ist die Kurzformel für die zwei Seiten der Wirklichkeit. Sie wird im nächsten Abschnitt als eine wichtige Übung näher erläutert.

Noch einmal: Solange wir uns mit dem Unbeständigen identifizieren, mit dem, was kommt und geht, leiden wir. Wenn wir wissen: Ich bin das Offene Gewahrsein, in dem alles geschieht, hört alle Angst auf. Anfangs allerdings nur solange wir daran denken. Mit der Zeit sickert dieses Wissen und das Vertrauen in tief in uns ein. Und dann vertrauen wir auch in den Augenblicken auf Buddha-Natur, wenn gerade alte Muster aufsteigen: Zweifel, Trauer und Unzufriedenheit, Unruhe und Angst. Wir können dieses Vertrauen auf Buddha-Natur üben. Das tun wir im nächsten Schritt, in der nächsten Phase. Die Erfahrung der Abwesenheit von Unruhe und Aufregung ist so anziehend, daß es leicht fällt, den Geist darauf zu richten. In diesem Stadium müssen wir uns nicht mehr zur Übung zwingen. Die Übung „holt“ uns.

6. Den Geist erziehen: die via positiva

Der Geist erschafft beides: Samsara und Nirvana. Doch das ist keine große Sache. Es sind nur Gedanken. Erkennen wir, daß Gedanken leer sind. Hat der Geist keine Kraft mehr, uns zu betrügen. Dilgo Khyentse

Was wir sind und was die Welt ist, sind Sinneswahrnehmungen und Gedanken. Ich bin der lebendige Raum, in dem alles geschieht. Rigdzin Shikpo (Meditationen, 5)

Du bist der Ursprung der Welt und auch die Quelle der Freiheit. Du bringst die Früchte so süß, die alle Sehnsucht still´n. Du bist das Göttergeschenk, das Juwel aller Wünsche. Vor dem Einen Geist, verneige ich mich. Saraha. Freie Übersetzung 8

Wenn Zweifel auftauchen, sag einfach Nicht-Zwei. Seng Tsan, Vertrau dem Geist. 9

Reines Gewahrsein ist das, was wir in Wahrheit sind. Toni Packer (Moment, 95)

Nur, was nie geboren wurde, ist unsterblich. Finden Sie heraus, was nie schläft und nie wacht. Nisargadatta (Ich bin I, 5).

Offenheit und Freude. Leerheit und Glückseligkeit. Das ist mein wahres Ich. Lama Yeshe (Wege, 145)
Unmittelbar einführen in die eigene Natur.
Den einzigartigen Zustand unmittelbar entdecken.
Unmittelbar fortfahren im Vertrauen auf Befreiung.
Die Drei Kernpunkte des Garab Dorje.
(Dalai Lama, Dzogchen, 67-68) 10

In Ursache und Wirkung sind wir verbunden
mit allen Buddhas und mit Buddha, Dharma und Sangha.

Kanzeon-Sutra. Zen.

Die Grundübung in diesem Stadium ist das Ruhen in Buddha-Natur, das Ruhen im Offenen Gewahrsein. Wenn wir die Natur des Geistes einmal erkannt haben, vertrauen wir auf den offenen, lebendigen Raum, in dem sich unsere kleine Persönlichkeit „ereignet“. Immer wenn wir kleinkarierte Gedanken und Gefühle und die Identifikation mit ihnen bemerken, halten wir sie nicht länger fest und „ruhen“ im offenen Raum. In der vierten Etappe liegt der Schwerpunkt auf der via negativa. Zu allem, was aufsteigt, sagen wir: „Neti, neti.“ Wir verneinen die letztendliche Wirklichkeit der Erscheinungen, weil wir dazu neigen, sie für die einzige Wirklichkeit zu halten. In der sechsten Etappe liegt der Schwerpunkt bei der via positiva. Wird der Geist sehr unruhig und das Vertrauen in die Natur des Geistes schwächer, kehren wir zur via negativa zurück und üben „Neti, neti“.

Weitere Überlegungen und Übungen

Einsicht und Verdienste sammeln: Die Tradition beschreibt es so: Wenn wir die Natur des Geistes verstehen, „sammeln“ wir Einsicht, und das dient dem eigenen Wohl. Wir verlieren unsere Angst und leben in Würde. Wenn wir den Geist reinigen, Ethik und Großzügigkeit üben und Liebe und Mitgefühl für alle Wesen entwickeln, „sammeln“ wir Verdienste oder positive Energie an, und das dient vor allem dem Wohle der anderen. Wer einen reinen Geist hat, kann andere Menschen leicht inspirieren.

Raum und Zeit: Es fällt uns leichter, Gedanken als Gedanken zu erkennen und nicht mehr festzuhalten, wenn wir begreifen, daß auch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit Konzepte sind und Zuschreibungen. Wir können uns immer wieder fragen: „Wo ist hier? Und wo ist jetzt?“

Fünf Emotionen und Fünf Arten von Buddha-Natur. Der tantrische Buddhismus lehrt Methoden, wie wir in den fünf Emotionen die fünf Arten von grundlegendem Gewahrsein, von Buddha-Natur, entdecken können. Wenn wir das tief verstanden haben, manifestieren sie sich als die fünf Arten der tiefen Erkenntnis. (Vgl. Wetzel, Himmel, 66-80)

Zwei Arten von Wirklichkeit: Die Lehre von den zwei Seiten, Ebenen oder Arten der Wirklichkeit im Mahayana versucht zwei unterschiedliche Erfahrungen in ein intellektuell befriedigendes System zusammenzufassen: Manchmal leben wir völlig in der Welt der Dinge und Menschen, und jeder Unterschied zählt. Manchmal fühlen wir uns eins mit allen, was ist, und die Unterschiede sind unwichtig. Die klassische Formel für die Auflösung dieses Widerspruchs von Vielfalt und Einheit ist: „Form ist Leerheit. Leerheit ist Form.“ Wenn wir auf die Unterschiede, auf die Erscheinungen achten, so heißt das relative oder konventionelle Ebene der Wirklichkeit. Dort gelten die Gesetze des Karma: Ein Lächeln, das wir aussenden, kehrt zu uns zurück. Der Apfel fällt auf den Boden und nicht in den Himmel.

Wenn wir auf den lebendigen Raum achten, in dem die Erscheinungen auftauchen, heißt das letztendliche oder absolute Ebene. Diese Erfahrung ist frei von Zuschreibungen: leer, offen, unfaßbar. Der Begriff „absolut“ Wirklichkeit für Leerheit oder Buddha-Natur ist völlig „unbuddhistisch“. Buddha-Natur ist zwar „ungeboren“ und „nicht bedingt“, existiert aber nicht losgelöst (lat. ab-solutus) von uns. Das Begriffspaar „relativ- absolut“ suggeriert zudem eine Hierarchie: Die absolute Ebene der Wirklichkeit, Leerheit, scheint wichtiger und bedeutender als die bloß relative Ebene der Erscheinungen. Hannah Arendt nennt das, in Bezug auf die zwei Weltentheorie von Erscheinung und Sein in der europäische Philosophie einen metaphysischen Irrtum. (Arendt, Geist, 22, 32). Dieser folgenschweren Irrtum wurde möglich, weil wir alle die Erfahrung machen, daß beim Nachdenken „die Welt verschwindet“. Allerdings immer nur für eine Weile. Noch kein Philosoph und wohl auch kein Erwachter hat es je geschafft, sich aus der Welt der Erscheinungen „weg zu denken“. (Arendt, Geist, 77ff) Es scheint daher sinnvoll, statt von relativer und absoluter Wahrheit oder Wirklichkeit besser von konventioneller und letztendlicher Wirklichkeit zu sprechen. Die Gegenreaktion auf den metaphysischen Irrtum ist der materialistische Irrtum, der Glaube, und mehr als ein Glaub ist das auch nicht, es gäbe nur die Welt, die wir mit den fünf Sinnen wahrnehmen können.

Das Herz-Sutra erklärt uns sehr drastisch, wie das Unsichtbare und das Sichtbare, wie Leerheit und Erscheinung, „Schein und Sein“ zusammenhängen. Dieser alte Weisheitstext gibt uns jedes Mal eine Ohrfeige, wenn wir an einer Art von Wirklichkeit hängen bleiben. „Jajaja. Form ist wichtiger. Form.“ Batsch! „Leerheit. Jajaja. Leerheit ist wichtiger. Leerheit.“ Batsch! „Form.“ Im einigen Mahayana-Schulen wird dieser Text täglich rezitiert. Das scheint wohl nötig, denn wir müssen diese Wahrheit immer wieder hören. Solange bis wir begreifen, daß genau da, wo Form erscheint, Leerheit ist, und genau da, wo Leeerheit ist, Form erscheint. Es gibt keine Erscheinungen ohne Leerheit und auch keine Leerheit ohne Erscheinungen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine Erscheinungen ohne Budhda-Natur und auch keine Buddha-Natur ohne Erscheinungen. Genau da, wo Erscheinungen auftauchen, genau da ist Buddha-Natur, und genau da, wo Buddha-Natur ist, tauchen Erscheinungen auf. Genau da, wo das Leben „tobt“, genau da ist Buddha-Natur, und genau da, wo Buddha-Natur ist, „tobt“ das Leben. In christlichen Begriffen könnte es heißen: Genau da, wo Gott ist, erscheint die Welt, und wo die Welt erscheint, ist Gott. Amen. Basta.

Karma-Yoga mit der Grünen Tara: Für devotionale Naturen eignet sich das Karma-Yoga mit der Grünen Tara oder einer anderen Buddha-Gestalt. Wir schenken und widmen all unser Handeln der Grünen Tara. Wir nehmen die Folgen unseres Handeln als Geschenk von Tara an. So bleiben wir bereit, das, was geschieht, anzunehmen und das beste daraus zu machen. Diese Übung funktioniert, wenn wir zumindest vage verstehen, daß alle Buddhas, die Grüne Tara und jede Buddha-Gestalt, die unser Herz berührt, ein Symbol von Buddha-Natur sind. Wenn wir uns auf sie beziehen, stärkt das unser Vertrauen auf das Wirken von Buddha-Natur in uns und in allen. Die Krönung der Übung mit Buddha-Figuren ist die schlichte und erschütternde und zugleich erheiternde Einsicht, daß nicht „wir“ die Tara-Praxis machen, sondern die Grüne Tara sich heute und jeden Tag in „meiner“ Gestalt, in Gestalt einer Frau oder eines Mannes manifestiert. Und wir schauen zu, was die Grüne Tara heute wieder alles anstellt. Diese Praxis reinigt den Geist mit großer Kraft und sorgt für eine fruchtbare Distanz und eine existentielle Nähe zu allem was wir erleben.

7. Erwachen: Menschen, Götter, Buddhas

Nach seinem Erwachen wird der Buddha gefragt:“Wer bist du? Ein Mensch oder ein Gott?“
Darauf sagt der Buddha: „Ich bin weder Mensch noch Gott, ich bin erwacht.

Am Ende sind Berge wieder Berge, und Flüsse sind Flüsse. Zen

Und manche nennen es einfach „gewöhnliches Gewahrsein. Padmasambhava

Die tibetische Tradition unterscheidet drei Arten von Erwachten: Arhats, „einfache“ Erwachte und vollkommen Erwachte. Arhats haben Gier, Haß und Verblendung überwunden, hängen aber am Frieden des Nirvana und „dämmern“ in einer Art erleuchteter Ruhe vor sich hin. Solange bis ein Buddha sie aufweckt und ihnen erklärt, daß der Weg noch nicht zu Ende ist.

Die „einfachen“ Erwachten wissen, dass sie Buddha-Natur und alle Erscheinungen sind. Es gibt aber noch unreine Muster in ihrem Geist. Sie wirken in einem begrenzten kulturellen Umfeld und inspirieren nur ganz bestimmte Menschen.

Der historische Buddha unserer Zeit, Shakyamuni Buddha, ist ein Beispiel für einen vollkommen Erwachten (Pali samyak sambuddha). Sein Geist war so rein, daß er für lange Zeit sehr viele Menschen inspirieren konnte und es heute immer noch kann. Als das Mittel zur Reinigung des Geistes gilt im Mahayana der Weg der Bodhisattvas. Sie üben die sechs zur Vollendung führenden Haltungen und Handlungen: Geben und Ethik, Freude am Heilsamen und Akzeptanz, Sammlung und Einsicht (S. dana, sila, virya, kshanti, samadhi, prajna) . Vollkommen Erwachte sind Lehr-Buddha einer ganzen Epoche. Shakyamuni gilt im frühen Buddhismus als der siebte historische Buddha. Wir leben in glücklichen Zeiten, heißt es, weil auch in Zukunft ein Buddha kommen wird. Der oder die nächste vollkommen Erwachte ist Maitreya, der oder die Große Liebende. (Diga Nikaya 14,1,1; 26,25). Auch die Mahayana-Tradition nennt unser Zeitalter (S. kalpa) ein glückliches, erhöht die Anzahl der Lehr-Buddhas aber hoffnungsfroh auf insgesamt tausend. Die Botschaft: Auch wenn wir es in diesem Leben nicht schaffen, wir haben noch viele Chancen.

Einfache und völlig Erwachte wissen, daß sie beides sind: Offenes Gewahrsein und alles, was darin geschieht. Sie müssen die Bewegungen im Geist nicht verneinen. Sie reden weder ständig von Leerheit, noch müssen sie ihre Identität mit Buddha-Natur betonen. Sie gehen über die via negativa und die via positiva hinaus. Man könnte sagen, sie leben die via integrativa. Erwachen gilt als das Höchste, was Menschen erreichen können. Erwachte lassen alle Kategorien hinter sich. Deswegen sagte er Buddha: „Ich bin weder Mensch noch Gott, ich bin erwacht.“

Zum Weiterlesen

(Kurztitel in Klammern)
Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München: Piper 2002 (Geist)

Ayya Khema: Ohne mich ist das Leben ganz einfach. Aurum 1994. (Leben)

Meister Bankei: Die Zen-Lehre vom Ungeborenen. Hg. Norman Waddell. Bern: O.W.Barth 1988. (Zen-Lehre)

Dalai Lama: Dzogchen. Die Herz-Essenz der Großen Vollkommenheit. Berlin: Theseus 2001 (Dzogchen)

Kalu Rinpoche: Der Dharma, der wie Sonne und Mond alle Wesen erleuchtet. Wachendorf: Kagyu Dharma 1990 (Dharma)

Toni Packer: Der Moment der Erfahrung ist unendlich. Belrin: Theseus 1996 (Moment)

Rigdzin Shikpo: Meditation und Achtsamkeit. Berlin: Theseus 1999. (Achtsamkeit)

Rigdzin Shikpo: Meditationen. Berlin-Jütchendorf: edition tara libre 2002. (Meditationen)

Sylvia Wetzel: Hoch wie der Himmel, Tief wie die Erde. Meditationen über Liebe, Beziehungen und Arbeit. Berlin: Theseus 1999.(Himmel)

Sylvia Wetzel: Leichter leben. Meditationen zum Umgehen mit Gefühlen. Berlin: Theseus 2002 (Leben)

Sylvia Wetzel: Poesie des Erwachens. Band 1: Buddhistische Texte und Lehrgedichte. Berlin: edition tara libre 1999. Band 2: Texte zum Thema Erwachen. Berlin-Jütchendorf: edition tara libre 2003. (Poesie 1 oder 2)

Lama Yeshe: Wege zur Glückseligkeit. Arnstorf-Jägerndorf: Diamant 1988.

Zur Autorin

Sylvia Wetzel, geb. 1949, ursprünglich Gymnasiallehrerin, befaßt sich seit 1968 mit unterschiedlichen Wegen zur psychologischen und politischen Befreiung und seit 1977 mit dem Buddhismus. Ausbildung in der tibetischen Tradition (Thubten Yeshe, Zopa Rinpoche, Rigdzin Shikpo (Michael Hookham) u.a.), zwei Jahre Praxis als Nonne. Wichtige Impulse kommen aus dem Rinzai-Zen, dem Theravada, dem Tara-Rokpa-Prozeß. Die Publizistin und Meditationslehrerin spricht und schreibt über Buddhismus und unterrichtet seit 1986 Entspannung, Meditation und Buddhismus im deutschsprachigen Raum und in Spanien. Mit ihren kulturkritischen und feministischen Ansätzen ist sie eine Pionierin des Buddhismus im Westen. Sie ist Mitbegründerin und Vorsitzende der 2001 gegründeten Buddhistischen Akademie Berlin Brandenburg.

1. Eigene Übersetzung nach der englischen Fassung. In: Nyoshul Khenpo: Natural Great Perfection. Transl. by Surya Das. Ithaca, New York: Snow Lion 1995, S. 11-12. Deutsche Fassung in: Wetzel, Leben, S. 200-202.c

2. Helmuth Hecker: Itivuttikam. Sammlung der Aphorismen aus dem Palikanon. Hamburg: BGH 1994.

3. Ama Samy: Zen. Erwachen zum ursprünglichen Gesicht. Berlin: Theseus 2002, S.43.

4. Das ganze Sutra lautet: Kanzeon, Ehre sei Buddha. Wir sind eins mit Buddha. In Ursache und Wirkung sind wir verbunden mit allen Buddhas und mit Buddha, Dharma und Sangha. Die wahre Natur ist ewig, freudig, selbstlos und rein. Durch den Tag Kanzeon, durch die Nacht Kanzeon. Nen um Nen entspringt aus dem Geist. Nen um Nen ist nicht getrennt vom Geist.

5. Die englische Fassung lautet bei Snellgrove: Mind is the universal seed./ Both samsara and nirvana spring forth from it. / Pay honour to this that like a wish-granting gem / gives all desirable things.

6. Eigene Übersetzung. Dieser Abschnitt ist Teil 6 von 28. Der ganze Wurzeltext ist enthalten in: John Myrdhin Reynolds: Self-Liberation through seeing with naked awareness. New York: Station Hill Press 1989, S. 9-28. Das Buch enthält einen ausführlichen Kommentar zum Wurzeltext und einen ausführlichen Anhang mit Kommentaren zu der früheren Übersetzung von W.Y.Evans-Wentz und der psychologischen Einführung von C.G.Jung zu dessen Werk. Vgl. W.Y. Evans- Wentz: The Tibetan Book of Great Liberation. London 1954.

7. Nach einer mündlichen Unterweisungen von Sogyal Rinpoche, Jägerndorf 1986.

8. Vgl. Anm. 5.

9. Eigene Übersetzung aus dem Englischen. Vgl. Die Meisselschrift vom Glauben an den Geist. Das geistige Vermächtnis des dritten Patriarchen des Zen in China. Bern: O.W.Barth 1991.

10. Freie Übersetzung unter Verwendung mündlicher Unterweisungen von Sogyal Rinpoche, Berlin 1988. Vgl Dalai Lama (Dzogchen). In diesem Buch kommentiert der Dalai den ausführlichen Kommentar von Patrul Rinpoche zu Garab Dorjes Wurzeltext „Das Treffen der Essenz in Drei Worten“. Das sehr lesenswerte Buch stellt verschiedene Unterweisungen des Dalai Lama zum Thema Dzogchen (wtl. Die große Vollendung. Lehren über die Natur des Geistes) zusammen.