Talkshow mit der Grünen Tara

Sylvia Wetzel. Talkshow. Frauen und Buddhismus. Erstabdruck in: Lotusblätter. Doppelnummer „Frauen im Buddhismus“. 4.1989/1.1990. S.48-54. (Inzwischen heißt die Zeitschrift Buddhismus Aktuell). Nachdruck in: Das Patriarchat ist zuende. Buddhismus im Westen. Frauen und Buddhismus. Frauen und Freiheit. Weibliche Freiheit. Thesen und Übungen von Sylvia Wetzel, 176 S. Berlin: edition tara libre 2000. Bezug über tara libre – Schriften

Talkshow: Frauen und Buddhismus

Die Gedanken, die in dieser fiktiven Talkshow geäußert werden, stammen aus weit auseinanderliegenden Zeiten, die Talkshow selbst findet heute statt, in den Köpfen von Frauen und Männern aus den westlichen und verwestlichten Ländern, beim Tee in Meditationszentren und beim Spazierengehen zwischen zwei Meditationssitzungen. Und unter Frauen, die auf ihrer Suche nach Befreiung nicht von ihrem Frau-Sein abstrahieren wollen, sondern ihre biologische, soziale und spirituelle Existenz als Frauen zum Ausgangspunkt nehmen für ihre Suche nach weiblicher Freiheit. Ihr Ort ist überall. Sie findet nicht nur hier auf diesen Seiten statt. Zusammengestellt und moderiert von Sylvia Wetzel.

Sylvia Wetzel: Zuerst möchte ich Ihnen die anwesenden Damen und Herren vorstellen. Zwei unserer Ehrengästinnen – die indische Göttin Arya Tara (Sanskrit: Edle Befreierin), deren Praxis von dem indischen Pandit Atisha im 11.Jahrhundert nach Tibet eingeführt wurde, und die US-amerikanische Feministin und Buddhistin Rita M.Gross – werden sich selbst vor allem durch ihre Aussagen vorstellen (vergl Anm. 7). Sariputra war ein unmittelbarer Schüler des Buddha, dessen Beitrag nach einem Aufsatz von Dr. Hecker (siehe Anm. 1) zitiert wird. Frau Sottosopra (Italien. Drunter und Drüber. Titel einer italienischen Frauenzeitung) steht für eine Richtung der italienischen Frauenbewegung um den Mailänder Buchladen und die Veroneser Philosophinnengruppe Diotima, die das Denken der Geschlechterdifferenz in Philosophie, Religion und Gesellschaft sehr grundsätzlich inspiriert hat (vgl. Anm. 3). Martin Steinke (Bhikkhu Tao Chün), ein deutscher Zenmeister der chinesischen Ch’an-Tradition (gest. 1966), war um die Herausbildung einer europäischen Buddhalehre bemüht. Er wird nach Dr. Hecker zitiert. Dr. Helmut Hecker, Mitglied im Rat der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) bis 1990, befasst sich seit den vierziger Jahren mit der Buddhalehre und hat in vielen Veröffentlichungen Berührungspunkte des Buddhismus mit westlichem Denken untersucht und vorgestellt. Bhikkuni Ayya Khema ist eine deutschstämmige Dhamma-Lehrerin, die das Buddha-Haus im Allgäu betreut (vgl. das Interview mit Ayya Khema und ihren Vortrag über Frauen und Spiritualität Lotusblätter „Frauen im Buddhismus“). Den übrigen Damen und Herren werden häufig gehörte Aussagen und Standpunkte in den Mund gelegt.

Die Moderatorin Sylvia Wetzel befaßt sich seit 1977 mit dem Buddhismus und arbeitet seit 1984 im Vorstand der Deutschen Buddhistischen Union (DBU). Von 1980 bis 1988 leitete sie ein tibetisch-buddhistisches Meditationszentrum in Bayern. Sie lebt bei Berlin auf dem Land und gibt regelmäßig Meditationskurse an verschiedenen Orten, vor allem für Frauen.

Können Frauen Erleuchtung erlangen?

Ich freue mich, daß Sie so zahlreich erschienen sind, um das Verhältnis von Frauen zum Buddhismus und des Buddhismus zu den Frauen etwas zu erhellen. Ich möchte das Wort zuerst an unsere Ehrengästin geben – an Arya Tara, eine Erwachte, ein weiblicher Buddha wie es so nett patriarchal auf gut deutsch heißt, eine indische Göttin aus dem Mahayana-Buddhismus, die insbesondere die tibetischen Buddhisten in ihr Herz geschlossen haben. Bitte erzählen Sie uns etwas über ihr Leben und ihre Erfahrungen mit den Frauen und den Männern im Buddhismus. Und sagen Sie bitte etwas zu dem Thema: „Können Frauen Erleuchtung erlangen?“

Arya Tara: Wie Sie vielleicht wissen, war ich zu der Zeit eines früheren Buddha in einer Welt, die man Vielfältiges Licht nannte, eine Prinzessin mit dem Namen Yeshe Dawa, auf deutsch etwa Mondengleiche Intuitive Weisheit. Ich war eine eifrige Praktizierende des Buddhismus und erreichte durch meine meditative Praxis die Fähigkeit, das Geschlecht meiner nächsten Inkarnation zu bestimmen. Ein befreundeter Mönch freute sich mit mir über diese Realisierung und meinte: „Wie wunderbar, wie wunderbar, jetzt kannst du dich endlich als Mann inkarnieren und Erleuchtung erlangen.“ Damit war ich allerdings nicht einverstanden. Meines Wissens gibt es äußerst wenige Buddhas, die in einem weiblichen Körper Erleuchtung erlangt haben, nach Aussagen einiger Gelehrter gab es sogar zu dem Zeitpunkt gar keinen. So legte ich damals folgendes Gelübde ab, das unter dem Begriff Tara-Gelübde bekannt wurde, und das viele Anhängerinnen doch meines Wissens kaum Anhänger fand:

„Von nun an bis zur Erleuchtung werde ich ausschließlich weibliche Inkarnationen annehmen und auch in weiblicher Gestalt Erleuchtung erlangen, als Inspiration und Vorbild für Frauen, die den buddhistischen Weg gehen.“ Soweit zu meiner Lebensgeschichte und meinem Verhältnis zum Frau-Sein.

Sylvia Wetzel: Das ist ja geradezu eine feministisch zu nennende Aussage, mit der sicherlich viele Frauen etwas anfangen können. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Vortrag über die Tara-Praxis, den ich im Sommer 1977 in Dharamsala erhalten habe. Nachdem ich von diesem Tara-Gelübde gehört hatte, keimte die Hoffnung, daß der ansonsten eher von Männern dominierte und vermittelte Buddhismus vielleicht auch für mich als Frau einen Weg zur Erleuchtung bietet. Jetzt möchte ich das Wort an den Ehrwürdigen Shariputra weitergeben, einen direkten Schüler des Buddha.

Shariputra: Nun. So habe ich gehört: Unmöglich ist es und kann nicht sein, daß eine Frau einen Heiligen als Vollkommen Erwachten oder einen Kaiserkönig darstellen kann oder daß sie Herrschaft über den Himmel, die Hölle oder die Brahmas erlangen kann.1

Sylvia Wetzel: Da regt sich Widerspruch von unserer italienischen Yogini im Kreis. Frau Sottosopra, Sie möchten etwas sagen.

Frau Sottosopra: Ich bin erstaunt, daß dieser Satz auch heute noch kommentarlos zitiert wird. Erst auf eindringliche Nachfragen hin hört man, daß das eben den sozialen Verhältnissen der Zeit – sechs Jahrhunderte v.u.Z. – geschuldet sei. Und dann geht man wieder über zu den zeitlosen Lehren, ohne darüber weiter ein Wort zu verlieren.

Martin Steinke: Meine Dame, dazu möchte ich aber etwas bemerken: Es zeugt nicht gerade von Scharfsinn, wenn man dem Buddha die Tatsachen, auf die er keinen Einfluß hat, zum Vorwurf macht; und es zeugt von völliger Unkenntnis, wenn man ihm, der diese Tatsachen aufdeckt und nachdrücklich darauf hinweist, den Vorwurf macht, er entmutige und erniedrige die Frau.“ 2

Ein eifriger Buddhist: Moment Mal. Ich verstehe all diese sogenannten frauenfeindlichen Aussagen des Buddha etwas anders. Er meint damit sicherlich, solange man sich mit seinem Geschlecht identifiziert, kann man nicht Erleuchtung erlangen. Solange sich eine Frau mit ihrem Frau-Sein identifiziert, kann sie nicht Erleuchtung erlangen.

Frau Sottosopra: Interessant, diese Interpretation. Warum sagt der Buddha das denn nur den Damen? Und nicht den Herren Mönchen? Diese führt ihre Identifikation mit ihrer Männlichkeit doch sicherlich auch nicht geradewegs zur Erleuchtung? Oder vielleicht doch? Könnte es sein, daß sich hinter dem öffentlich postulierten allgemeinen und neutralen Geist der Geist der Männer versteckt? Und damit die These, daß nur Männer Buddhaschaft erlangen können, insofern stimmt, als dieser Weg ein Weg für Männer ist? Die sich mit der These von der einen wahren Natur des Geistes – bewußt oder unbewußt – jeder Möglichkeit verschließen, einen spezifisch weiblichen Weg, einen anderen Weg der Frauen auch nur für möglich zu halten? 3

Helmut Hecker: Meine Dame, auch für den Mann ist die Identifikation mit seinem Geschlecht ein Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung; diese Einschränkung gilt für den Mann ebenso, nur hatte man den Buddha in diesem Zusammenhang nicht danach gefragt. 4 Ich möchte im folgenden erläutern, was es bedeutet, daß eine Frau kein Vollkommen Erwachter werden kann: Die Übersetzung „Vollkommen“ deutet nur auf einen solchen Erwachten hin, der die Fähigkeit zum unübertroffenen Menschheitslehrer ausgebildet hat. Damit führt er die vielen Wesen aus dem Leidensmeer des Samsaro heraus und leitet sie zum sicheren Ufer des Nirvana hin… Nun gibt es aber Erwachte, die – ebenso wie die Vollkommen Erwachten – aus sich heraus ohne Lehrer heil werden, die aber doch nicht lehren. Das sind die Einzelerwachten. Und Buddha hat nirgends gesagt, daß eine Frau kein Einzelerwachter werden könne. Und Einzelerwachte gibt es weit mehr als Vollkommen Erwachte. 5

Frau Sottosopra: Das mag ja sein. Doch ein Menschheitslehrer kann, diesen Lehren zufolge, eine Frau nicht werden. Mit dieser Aussage stellt sich auch der Buddha in die Schar jener Männer, die ihren Weg als einen allgemeinen Weg für die ganze Menschheit, für Männer und Frauen formulieren. Und dann Aussagen darüber machen, daß Frauen bestimmte Realisierungen auf diesem Weg nicht erreichen können, beziehungsweise bestimmte Positionen – Lehrer, Priester – nicht einnehmen können. Auf dem buddhistischen Weg können Frauen große Realisierungen erreichen, Arhatschaft, die Befreiung vom Daseinskreislauf, doch nicht alles. Das mag damit zusammenhängen, daß es ein von Männern erfahrener und formulierter Weg ist. Meines Erachtens ist es an der Zeit, daß Frauen diese Aussagen als solche stehen lassen und sich aufmachen, ihren Weg zu formulieren. Das, was von weiblicher Spiritualität bekannt ist, läßt den Schluß zu, daß Frauen eher dazu neigen, durch ihr Sein zu lehren und nicht über Lehrgebäude, daß sie die Verbindung aller Lebensbereiche – Alltag, Liebe, Spiritualität – betonen, und nicht das eine auf Kosten der anderen Bereiche fördern.

Sylvia Wetzel: Jetzt möchte ich weitere Frauen aus der großen Schar der Praktizierenden zu Wort bitten. Wie ich höre, stellen ja die Frauen meist die Mehrheit in buddhistischen Seminaren, Vorträgen und Retreats. Die Lehrenden sind – in Asien praktisch ausschließlich und im Westen überwiegend – Männer. Wie fühlen Sie sich in dieser klassischen Rolle, wo Ihnen wie in allen Hochreligionen ein Mann sagt, wie Sie Ihr Seelenheil erringen, oh, Entschuldigung, ich meine Ihre Selbstlosigkeit erkennen sollen?

Eine Individualistin: Wissen Sie, mir ist das ziemlich egal, wer da vorne spricht. Wenn das, was er oder sie sagt, mir hilft. Ich entscheide das je nach Situation.

Eine emanzipierte Frau:
Was bringt denn dieses ständige Betonen von männlich oder weiblich, das Herumreiten auf dem kleinen Unterschied? Das ist doch lediglich ein biologischer Unterschied, der in der Vergangenheit hochgespielt wurde und zur Unterdrückung der Frauen geführt hat. Der Geist ist ohne Geschlecht, und wir sollten uns alle bemühen, alle heilsamen Fähigkeiten zu entwickeln und die unheilsamen abzubauen. Und dabei hilft der Buddhismus. Jedem, ob Mann oder Frau.

Was hat die Erleuchtung mit dem Geschlecht zu tun?

Frau Sottosopra: Moment mal. Wissen Sie, ob das, was Sie da sagen, stimmt? Jahrtausendelang hielten die Männer in Religion und Philosophie und vor allem in der Familie an der Differenz, an den Unterschieden zwischen Frauen und Männern fest und begründeten damit eine Hierarchie zwischen den beiden Geschlechtern, das heißt die Unterordnung der Frau unter den Mann. Oder anders formuliert: Die Männer formulierten ein von ihnen unterschiedenes Wesen der Frauen, ein Wesen, das eine wunderbare Ergänzung zu ihrem eigenen bilden sollte. Und machten sich dann vor allem Gedanken darüber, wie sie, die Männer ihren Weg zur Erleuchtung gehen können, häufig versorgt von Müttern, Ehefrauen und Töchtern, denen sie diese Möglichkeit nur bedingt oder eingeschränkt oder gar nicht zusprachen.

Natürlich wurden die Frauen nie gefragt, ob sie mit dieser Interpretation einverstanden waren. Jetzt haben die Frauen – manche meinen zum ersten Mal in der Geschichte, andere meinen, endlich wieder – die Kraft und das Wissen, sich über ihr Frau-Sein Gedanken zu machen. Und nun empfehlen uns die Denker aller Schattierungen das Geschlecht lieber zu vergessen und an den neutralen Geist zu glauben. Nein, ich glaube, es ist nötig, daß Frauen als Frauen ihre Praxis der Meditation anschauen und reflektieren und sie verändern, wo sie das als notwendig erachten.

Sylvia Wetzel: Ich glaube, da regt sich Widerspruch. Die Ehrwürdige Ayya Khema, unsere Bhikkhuni aus Berlin, die seit 1989 das Buddha-Haus im Allgäu betreut, die Gründerin der Nonneninsel in Sri Lanka und allseits bekannte Lehrerin der Theravada-Tradition aus Sri Lanka möchte etwas dazu sagen.

Ayya Khema: Die Funktion der zwei Geschlechter ist auf die Fortpflanzung bezogen. Dafür braucht es zwei Geschlechter. Psychologisch sind wir von der Anlage her androgyn. es gibt allerdings Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die sozial, durch die Außenwelt bedingt sind. Es geht darum ganz zu werden. Die männliche und die weibliche Seite zu entwickeln. Den mittleren Weg des Buddha zu gehen, die Synthese in sich zu finden und nicht mehr vom Außen abhängig zu sein. 6

Der Mensch ist zwei

Sylvia Wetzel: Diese Position bietet als Lösung des Problems die psychische Androgynität. Ich halte diese These nicht für der Weisheit letzten Schluß, sondern eher für eine Falle, mit der die Philosophen und Esoteriker die heile Welt des einen Geschlechts retten möchten, das etwas zu sagen hat. Für einen Versuch, wiedereinmal und damit endgültig die Augen davor zu verschließen, daß es aus gewichtigen Gründen eben doch zwei Geschlechter gibt. Ich finde es an der Zeit, daß beide, Frauen und Männer ihre unterschiedlichen Erfahrungen von sich und der Welt ausdrücken und in Sprache fassen, damit endlich beide Geschlechter in der Welt auftauchen.

Wenn das andere Geschlecht – die Frauen – anfängt, seine Erfahrungen und Erkenntnisse zu formulieren, und wenn das eine Geschlecht – das der Männer – aufhört, seine Erfahrungen und Erkenntnisse zu verabsolutieren und als allgemeine Wahrheit zu verkünden, gäbe es möglicherweise weniger Raum und Drang, das eigene auf das andere zu projizieren, und eine fruchtbare Kommunikation und Inspiration zwischen Unterschiedenen und doch Ebenbürtigen – ohne hierarchische Zuordnung – könnte beginnen.

Warum, frage ich, beharren die von Männern bestimmten Gedankenwelten, Religionen und Philosophien usw. so sehr darauf, daß es nötig und wünschenswert sei, vom Geschlecht zu abstrahieren – wir sind doch alle eigentlich reiner Geist – , oder das eine Geschlecht auf das andere zu reduzieren – die Frau ist ein unvollkommener Mann, wie es die Griechen, Freud und ihre vielen Anhänger tun – oder das eine auf das andere zuzuschneiden – die Frau als Ergänzung, andere Hälfte etc. des Mannes. Warum beharren sie darauf? Es scheint ein großes Interesse dahinter zu stecken, daß Frauen sich nicht selbst darüber Gedanken machen, wie sie sind und was sie wollen.

Ein Buddhist: Aber das hat doch überhaupt nichts mit dem Buddhismus zu tun, das ist ja reinster Feminismus. Und ich denke, hier geht es um den Buddhismus und die Frauen.

Eine Frau: Ja und nein. Es gibt viele Frauen, die sich von der buddhistischen Praxis angezogen fühlen. Es gibt viele Frauen, die gerne meditieren und mit buddhistischen Methoden sich zu verstehen suchen, und an ihrem Verhältnis zu den Menschen, zur Welt und zum Göttlichen, zur Transzendenz, arbeiten. Ich gehöre auch zu diesen Frauen.

Und ich habe viele Fragen. Ich habe beispielsweise den Eindruck, daß viele Aussagen des Buddhismus und viele seiner Methoden auf die Psyche von Männern zugeschnitten sind. Sehr viele Texte richten sich ganz direkt an Männer. Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, daß der Buddhismus seit 2500 Jahren überwiegend von Männern bewahrt, aufgeschrieben, praktiziert und gelehrt wird. Es wäre seltsam, wenn dem nicht so wäre. Denn wie man an den sozialen Strukturen unter Buddhisten in Asien sehen kann, wirkt sich die patriarchale Struktur dieser Gesellschaften und damit auch der praktizierenden Männer recht deutlich auf die Verhältnisse im Orden und in den budddhistischen Gemeinden aus. Beispielsweise ist das Ansehen von buddhistischen Nonnen weit geringer als das von Mönchen. Und damit fließen die Spenden weit weniger in Frauenklöster als in Männerklöster. Ich weiß, daß das auch damit zusammenhängt, daß es in einigen Traditionen keine Nonnenlinien mehr gibt, doch ist es natürlich höchst aufschlußreich, daß erst die frauenbewegten Frauen aus dem Westen Bewegung in diesen Komplex gebracht haben.

Ich bin daran interessiert, mit anderen Frauen über unsere Erfahrungen mit Meditation und Praxis zu sprechen, ohne von meinem Frau-Sein zu abstrahieren, und ich bin auch bereit, eigene Schritte zu gehen und Korrekturen vorzunehmen. Ich lasse mir keinen buddhistischen Denk-Maulkorb verpassen.

Ein moderner Buddhist aus dem Publikum: Ja, das gibt mir zu denken. Jede Tradition verändert sich ja, wenn die Menschen sich ändern. Und wir Buddhisten aus dem Westen – nun gut das waren meist Männer, das sehe ich natürlich – haben ja schließlich auch den Buddhismus verändert, beziehungsweise wir versuchen ihn so zu praktizieren, wie es unserem modernen, westlichen Leben entspricht. Und das wirkt sich natürlich auf die veränderte Situation der Frauen aus.

Sylvia Wetzel: Jetzt möchte ich unsere Gästin aus den USA bitten, sich zu äußern. Frau Rita M.Gross, Sie waren zuerst Feministin und sind jetzt eine der anerkannten Vertreterinnen des US-Buddhismus. Sie werden zu Konferenzen und Kongressen eingeladen, bei denen es um die Frauen und den Buddhismus geht. Meine Frage an Sie: Kann eine Frau als Frau Buddhismus praktizieren oder muß sie ihr Frau-Sein vergessen, davon abstrahieren, es überwinden?

Das Buddha-Dharma hat kein Geschlecht!

Rita M. Gross: Nun, die Frage hat für mich zwei Ebenen, eine allgemeine und eine konkret-politische. Ich möchte etwas provokativ sein und Ihre Frage – auf der allgemeinen Ebene – mit Nein beantworten. Meine zentrale These lautet: Das Buddhadharma hat kein Geschlecht [7]. Das bedeutet nun aber nicht, daß ich mich nicht mit der Rolle der Geschlechter im Buddhismus auseinandersetze.

Ich fasse meine Einsichten kurz zusammen: Zum einen ist der Buddhismus im Vergleich zu anderen Religionen, insbesondere im Vergleich mit den vorderasiatischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – erstaunlich frei von Vorurteilen im Hinblick auf die Geschlechterfrage. Zum andern ist offensichtlich, daß der Buddhismus diese Frage nicht gelöst hat, denn trotz der Lehren, die Frauen nicht grundsätzlich von einer geistigen Weiterentwicklung ausschließen, haben die Frauen nicht in gleichem Maße wie die Männer die Ziele des Buddhismus verwirklicht. Zumindest sagen das die uns bekannten Aufzeichnungen. Woran liegt das nun?

Der Buddhismus hat viele Gesichter

Ich möchte die Frage, ob Frauen Buddhaschaft erlangen können, zuerst im historischen Überblick betrachten. Obgleich zur Zeit des Buddha – vor zweieinhalbtausend Jahren – viele Frauen die Lehren praktizierten, als Nonnen und als Laien, und Nirvana erlangten, verhärtete sich die Haltung gegenüber den Frauen im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte. Man begann zu glauben – und das sind die Überlieferungen der südlichen Tradition, des Theravada -, daß Frauen nicht Erleuchtung erlangen könnten.

Um die Zeitenwende vertrat auch der aufkommende Mahayana-Buddhismus in vielen Texten die Ansicht, Buddhaschaft und Frau-Sein schlössen sich aus. Z.T. wurde das damit begründet, daß ein Buddha, bevor er Buddha wird, zuvor fünf bedeutende Stellungen in Samsara eingenommen haben müsse, die Frauen eben nicht zugänglich seien. Der verehrte Sariputra und die Herren Steinke und Hecker haben das schon erläutert. Einige Mahayana-Texte legen mehr Gewicht darauf, daß Buddhaschaft nichts mit dem Geschlecht zu tun habe, und einige wenige sehen eine Erleuchtung in einem Frauenkörper als möglich an.

Erst im Vajrayana, im tantrischen Buddhismus, der vor allem durch die tibetische Tradition im Westen bekannt wurde, gibt es zahllose weibliche Buddhas. Doch die Situation der Praktizierenden beispielsweise in Tibet zeigt, daß Frauen in der Geschichte des tibetischen Buddhismus nie auch nur annähernd ähnlich günstige Bedingungen für die Praxis hatten wie die Männer.

Seit einigen Jahrzehnten werden alle Traditionen des Buddhismus im Westen weitergegeben. Und da spielen Frauen eine aktive und recht einflußreiche Rolle. Ob das weiterhin so sein wird, weiß ich nicht. Werden die Frauen selbstzufrieden oder sorglos im Hinblick auf die Gefahr eines patriarchalen Rückschlages, könnte sich diese Situation schnell ändern. Das ist schon oft geschehen, nicht nur im Buddhismus, auch in anderen Weltreligionen.

Das Problem mit den Frauen

Wenn Sie mir eine längere Stellungnahme gestatten, möchte ich einige Aussagen aus den Schriften zitieren. Es gibt eine lange Debatte im Buddhismus über die Geschlechterfrage. Zwei Schlußfolgerungen finden sich immer wieder. Zum einen gibt es ein grundlegendes Problem mit dem weiblichen Geschlecht, mit den Frauen. Es heißt immer wieder, ein männlicher Körper sei vorzuziehen. Die Haltung der Männer reicht von Feindseligkeit gegenüber Frauen über Furcht bis hin zum Mitleid mit dem schlechten Karma, das die Frauen angesammelt haben, und das sie zu Frauen werden ließ.

Eine Frau aus dem Publikum: Heißt das, zur Strafe für schlechtes Handeln wird man als Frau geboren? Und wenn man brav war, als Mann?

Rita M. Gross: Das ist nur eine Schlußfolgerung, die allerdings zugegebenermaßen in den Schriften häufiger zu finden ist und offensichtlich populär war.

Eine Frau aus dem Publikum: Auch bei den Frauen?

Rita M. Gross: Die zweite und eher normative Aussage lautet, daß ein weiblicher Körper kein Hindernis auf dem Weg zur Befreiung darstellt. In der häufigsten Variante dieser Aussage heißt es, das Geschlecht sei irrelevant und letztlich nichtexistent. Einige wenige Textstellen stellen eine positive Verbindung zwischen Frau-Sein und spiritueller Entwicklung her.

Eine Frau aus dem Publikum: Das ist ja ein eleganter Ausweg aus dem Dilemma der Diskriminierung. Wenn ich als Frau nicht diskriminiert werden möchte, dann beweise ich einfach, daß es mich gar nicht gibt, dann kann mich keiner diskriminieren. Und alles kann beim alten bleiben. Ist das ein Witz, oder meinen Sie das ernst?

Alle Frauen sind von Natur aus verblendet

Rita M. Gross: Ich möchte hier eine Frage stellen. Wenn der Buddhismus in bestimmten Texten Weiblichkeit bzw. Frau-Sein als etwas Negatives betrachtet, ist das ein Ausdruck von Frauenverachtung, von Misogynie? Oder steckt da etwas anderes dahinter? Wir hören häufig Negatives über Frauen, wenn es um das Zölibat der Mönche geht. Die Forscher sind geteilter Meinung, ob das Ausdruck von Frauenfeindlichkeit ist oder etwas einfacher Ausdruck der Schwierigkeiten, die Männer mit dem asketischen Weg und der Entsagung haben. Ich könnte mir vorstellen, daß sie in erster Linie die Schwierigkeiten der Männer mit dem Zölibat spiegeln und nicht normative Aussagen über die grundsätzliche Schlechtigkeit der Frauen sind. Meines Erachtens gibt es ähnliche Passagen über Männer, die an die Nonnen gerichtet waren, die aber mit dem Verschwinden der Nonnenorden eben auch verschwanden.

Ein mögliche Interpretation von Textstellen, die Negatives über Frauen sagen, lautet folgendermaßen: Der indische Gelehrte Asanga sagt in einem bekannten Mahayana-Text, dem Bodhisattvabhumi: „Alle Frauen sind von Natur aus verblendet und von schwacher Intelligenz… Solch ein Wesen kann nie Buddhaschaft erlangen.“ Wenn man diese negative Aussage besonders gutwillig interpretiert, hat sie weder mit den Ängsten der Männer vor dem asketischen Weg noch mit Frauenfeindlichkeit zu tun. Manche Interpreten meinen, es könnte so sein, daß Asanga einfach das Frau-Sein für eine ungünstige Bedingung hält, nicht für etwas Böses oder Minderwertiges. In der buddhistischen Welt war damals das Leben der Frauen schwerer als das der Männer. Ihre Intelligenz wurde weniger gefördert und sie hatten kaum Ausbildungsmöglichkeiten. Kein Wunder, daß man ein Leben als Mann für besser hielt und das Frau-Sein für eine Auswirkung von schlechtem Karma. Nach dieser Interpretation ist das Versprechen einer männlichen Wiedergeburt für gutes Praktizieren Ausdruck von Mitleid und Mitgefühl und nicht von Verachtung und Frauenfeindlichkeit.

In der Mahayana-Literatur wird nun nicht nur das Geschlecht als irrelevant für die Erleuchtung gesehen, sondern man spricht sogar von der Nichtexistenz des Geschlechts im Sinne einer absoluten Kategorie. Das Geschlecht hat nur relative Bedeutung. Wenn man die Relevanz oder sogar die Existenz des Geschlechts leugnet, dann unterläuft man meines Erachtens jede Art von Frauenfeindlichkeit und patriarchalem Denken.

Man könnte sich auch vorstellen, daß man der Frauenfeindlichkeit und dem patriarchalen Denken positive Aussagen über das Frau-Sein gegenüberstellt und betont, daß es eine gute Bedingung für das Erlangen der buddhistischen Befreiung sei. Doch diese Haltung findet man meines Wissens nur selten, und nur im Vajrayana. Man sagt, daß Padmasambhava (8.Jhd. u.Z.), der Begründer des Buddhismus in Tibet, Frauen sogar als fähiger betrachtete:

Ein menschlicher Körper ist die Grundlage für das Erlangen von Weisheit / und die groben Körper von Männern und Frauen sind gleichermaßen geeignet / Doch besitzt eine Frau ein starkes Streben / hat sie das größere Potential. Padmasambhava.

Noch einmal zu der Aussage, eine weibliche Wiedergeburt, das heißt eine Wiedergeburt in einem weiblichen Körper, sei eine Folge von schlechtem Karma, das man in der Vergangenheit angesammelt habe. Buddhistische Männer versicherten mir, daß der Buddhismus völlig immun sei gegenüber Vorwürfen, er würde Männer privilegieren, denn „verdiente Frauen werden als Männer wiedergeboren“. Sie waren völlig perplex, als ich ihnen darzulegen versuchte, daß gerade diese Aussagen sexistisch, patriarchal und Ausdruck männlicher Überheblichkeit seien. Solche Argumente drücken Verwirrung im Hinblick auf deskriptive und normative Aussagen zum Thema Frau-Sein aus. Karma kann erklären, warum Frauen schlecht behandelt werden oder wurden. Es rechtfertigt nicht, daß man sie schlecht behandelt. Meines Erachtens können Handlungen, die darauf abzielen, Unterprivilegierung, Militarismus und ökonomische Ausbeutung zu beseitigen, Karma für günstigere Bedingungen in der Zukunft schaffen. Unglücklicherweise sind solche sozial relevanten Interpretationen in den Lehren über Karma und Wiedergeburt im Buddhismus recht selten.

Keine zentrale Lehre des Buddhismus kann zur Erklärung oder Rechtfertigung von Geschlechterhierarchie und Geschlechterprivilegierung herangezogen werden. Alle anderen Lehren des Buddhismus – Egolosigkeit, Leerheit und Buddha-Natur – widersprechen jeder Art von Geschlechterhierarchie.

Ich möchte hier zum Ausdruck bringen, daß es mir immer seltsam vorkam, daß eine Religion, die sich der Fallen und Gefahren des Ego so bewußt ist, nicht ebenso sehr bestrebt ist, zu erkennen, daß die Privilegierung eines Geschlechts und die Geschlechteridentität selbst eine der eher zerstörerischen Manifestationen des Ego ist. Und ich habe mich immer gewundert, daß so viele Generationen von ernsthaften buddhistischen Praktizierenden, die das Bodhisattva-Gelübde mit höchster Aufrichtigkeit genommen haben, dennoch eine Hierarchie der Geschlechter und der Privilegierung eines Geschlechts vor dem anderen – Männer stehen höher als Frauen – im Buddhismus beibehalten, ja sogar gefördert haben.

Sylvia Wetzel: Sie haben jetzt in großer Ausführlichkeit viele Aussagen relativiert, die als frauenfeindlich interpretiert wurden und werden. Sie haben die damals und auch noch heute vorhandene Diskriminierung von Frauen im Buddhismus als Reflex der sozialen Bedingungen in Asien interpretiert und rufen dazu auf, sich dagegen zu wehren. Ihr zentrales Argument gegen jede Diskriminierung von Frauen ist allerdings die letztendliche Irrelevanz der Kategorie Geschlecht, eine These, die zu den Vorstellungen von der psychischen Androgynität paßt. Sie scheint für Sie und nicht nur für Sie Garant einer Lösung der leidigen Geschlechterfrage.

Rita M. Gross: Ja, die Androgynität. Die Vajrayana-Vision, daß das weibliche und das männliche Prinzip gleichwertig und gleichermaßig notwendig sind, scheint mir vielversprechend und inspirierend, gerade weil dieses Modell eher androgyn als geschlechterneutral ist. Natürlich sind Menschen auf der relativen Ebene entweder Männer oder Frauen, doch beide sollten ganze Menschen werden. Die Schaffung eines solcherart androgynen Buddhismus ist meines Erachtens die Aufgabe und das Erbe der Buddhisten im Westen.

Eine Frage bleibt für mich offen. Haben die buddhistischen Männer alles gesagt, was es über Befreiung zu sagen gibt? Vielleicht werden die Frauen, wenn sie vollen Anteil an der buddhistischen Rede gewonnen haben, auch etwas zur buddhistischen Weisheit der Befreiung hinzufügen.

Sylvia Wetzel: Das möchte ich allerdings meinen. Ich setze keine Hoffnung darauf, daß die Politik der Androgynität die Diskriminierung von Frauen und ihrer anderen Erfahrungen beendet. Zumindest nicht zu einem Zeitpunkt, wo wir Frauen einer mehrtausendjährigen Tradition von Religionen und Philosophien gegenüberstehen, die die Erfahrungen und Gedanken von Männern als für beide Geschlechter verbindliches Allgemeines formulieren und reflektieren. Es scheint mir heute notwendig und möglich, daß die Frauen, die sich vom Buddhismus, seinen Lehren und Meditationen angezogen fühlen, ihren Erfahrungen, Fragen, Wahrnehmungen und Gedanken Ausdruck geben. Als Frauen und nicht unter Absehung von ihrem Geschlecht. Ayya Khema, ich sehe schon, Ihnen springt ein Satz aus dem Mund. Was meinen Sie dazu?

Ayya Khema: Den Frauen mehr Gewicht zu verleihen, sie sichtbarer zu machen, dieses Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern im Buddhismus auszugleichen, das müssen Frauen selber tun. Das tut keiner für sie.

Sylvia Wetzel: In diesem Sinne wünsche ich allen Frauen frohes Schaffen und eine erfolgreiche Arbeit auf diesem Gebiet. Ich danke allen, die an dieser Talkshow teilgenommen haben für ihre engagierte Mitarbeit. Auch all denen, die nicht persönlich teilgenommen haben, sondern sie durch ihre Fragen, ihren Mut und ihren langen Atem erst in dieser Vielfalt möglich machten.

Anmerkungen

1. Helmut Hecker: Mann und Frau in der Lehre des Buddha in: Wissen und Wandel. Jahrgang 35. 1989. Nr. 3-4. S.97 (M 115, A I,20, bei Nyp.25). In Jahrgang 35. Nr.5-6 stellt H.Hecker weitere Aussagen des Buddhismus zu Mann und Frau vor.

2. Martin Steinke. Geschlechtslust – Geschlechtsnot. Berlin 1938. zit. nach Hecker. a.a.O. S.98.

3. Die Ausführungen zur Geschlechterdifferenz sind inspiriert durch das Denken und die Schriften der französischen Philosophin Luce Irigaray, insbesondere in: Genealogie der Geschlechter. Kore Verlag. Berlin 1989, des Mailänder Frauenbuchladens Libreria delle donne, in: Wie weibliche Freiheit entsteht. Orlanda Verlag. Berlin 1988 und der italienischen Philosophinnengruppe Diotima, Verona in: Diotima. Der Mensch ist zwei. Das Denken der Geschlechterdifferenz. Wiener Frauenverlag 1989.

4. Hecker. a.a.O. S.104

5. Hecker. a.a.O. S.101

6. Ayya Khema. Interview mit Sylvia Wetzel am 14.Oktober 1989 in: Lotusblätter 4/89-1/90.

7. Die Aussagen sind eine freie Zusammenfassung des Artikels von Rita M. Gross. The Buddhadharma has no Gender in: Vajradhatu Sun. August-September 1988. S.11,14,15,28.