Von Schülern und Lehrern

Lehren und Lernen: Das Verhältnis von Lehrer:innen und Schüler:innen

Ein Interview mit der buddhistischen Lehrerin Sylvia Wetzel (SW)
. Das Interview führte Doris Iding (DI).
Es wurde veröffentlicht in: Yoga Aktuell, Heft 19, April/Mai 2003. S.44 bis 50

Zu keiner anderen Zeit wie heute hat es eine so große Vielzahl an spirituellen Systemen gegeben, die dem Menschen anbieten, seine psychische und spirituelle Entwicklung zu unterstützen. Aber bei der Flut von spirituellen Schulen und deren Lehrern, die den Westen in den letzten zehn Jahren überschwemmt haben, ist es nicht einfach, eine Tradition zu finden, die uns entspricht. Dazu kommt, dass wir sehr schnell von den äußeren Erscheinungen indischer Heiliger, japanischer Roshis oder tibetischer Lamas beeindruckt sind, uns von deren äußeren Erscheinung blenden lassen und ihnen blinde Verehrung entgegenbringen.

Von dieser unkritischen Ergebenheit werden andere Menschen wiederum so abgeschreckt, dass sie versuchen, den Weg alleine zu gehen. In einem solchen Fall fehlt uns wiederum die Auseinandersetzung mit einem Menschen, der die Fallen des spirituellen Weg kennt und der uns hilft, spirituelle Erfahrungen, die wir gemacht haben, zu verstehen und in unser Leben zu integrieren. Es gibt zwar einige Menschen, wie Ramana Maharshi, die Erleuchtung ohne einen Meister gefunden haben, dies ist jedoch eher eine Ausnahme. Sind wir hingegen eingebunden in eine Tradition und in Kontakt mit einem Lehrer, kann dieser uns helfen, die Erfahrung richtig einzuordnen und in unser Leben zu integrieren.

DI: Es heißt, dass wenn der Schüler reif ist, der Lehrer dann kommt. Stimmt das?
SW: Erfahrungsgemäß ist es so. Ich habe noch von niemanden gehört, dass diese Aussage nicht stimmt.

DI: Wie ist das zu verstehen? Muss man dann Seminare bei verschiedenen Lehrern machen, bis man ihn oder sie getroffen hat? Oder kann man den Dingen seinen Lauf lassen und abwarten?
SW: Die Lamas schlagen manchmal folgendes vor: Solange du noch keine Person gefunden hast, bei der du lernen möchtest, besuche Vorträge und Kurse bei unterschiedlichen Lehrerinnen und Lehrern. Das bedeutet nicht, dass man hektisch von einem Vortrag zum nächsten rennt. Man geht dahin, wo man sich angezogen fühlt oder wenn einem jemand empfohlen wird. Damit schaffen wir die Bedingung, jemandem zu begegnen.

DI: Ist es besser, sich einen Lehrer zu suchen, der aus dem eigenen Kulturkreis stammt oder jemand, der aus der Tradition stammt, die einen Menschen interessiert?
SW: Das kann man so allgemein nicht sagen. Wenn es klickt, dann klickt es. Ob die Person ein tibetischer Mönch, eine westliche Zen-Lehrerin oder jemand ohne asiatische Tradition als Hintergrund ist.

DI: Kann ein tibetischer Lehrer eine Frau aus Deutschland überhaupt ganz erfassen und ihr in allen Bereichen als spiritueller Lehrer dienen?
SW: Niemand kann dir in allen Bereichen als Vorbild und Inspirationsquelle dienen. Ich kenne keinen einzigen Lehrer aus Asien und auch niemand im Westen, die nur von einer Person gelernt haben. Wenn du ganz besonderes Vertrauen zu einer Person hast, lernst du natürlich leichter, auch wenn du einige Seiten der Person schwierig findest oder dir einige Dimensionen fehlen. Eine besondere Beziehung mit tiefem Vertrauen fällt selten vom Himmel. Sie entsteht meist in einem längeren Prozess, wenn man miteinander arbeitet. Ein weiser Rat lautet: „Solange das, was dem Lehrer oder der Lehrerin fehlt, dich nicht daran hindert, das zu lernen, was die Person geben kann, ist die Person in diesem Bereich geeignet.“

DI: Wie erreicht man hier ein gesundes Mittelmass aus Hingabe und Eigenbestimmung? Ein Lehrer muss doch nicht in allem Recht haben, oder?
SW: Eine Beziehung zu einem Lehrer oder einer Lehrerin funktioniert dann gut, wenn du darauf vertraust, dass sie dich gut begleiten können. Wichtig ist auch, dass ihr offen miteinander sprechen könnt über das, was du übst und was dich bewegt. Ich habe mit all meinen Lehrern und Lehrerinnen sehr offen gesprochen. Ich wurde nie unter Druck gesetzt oder zu etwas gedrängt, was ich nicht wollte. Ich denke, es nützt niemanden, wenn du deinen gesunden Menschenverstand auf dem spirituellen Weg abgibst. Du musst den Weg gehen. Das kann auch der wunderbarste Lehrer nicht für dich tun. Es gibt außerdem unterschiedliche Modelle für eine Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. Für viele westliche Menschen scheint mir das Modell „große Schwester“ oder „großer Bruder“ besser geeignet als eine idealisierte „Mutter- oder Vaterfigur“. Jede Beziehung ist ein Risiko, Liebesbeziehungen, Geschäftspartner und auch die zu einer Person, die dich spirituell begleitet. Sei mindestens genau so vorsichtig und umsichtig, wie bei der Auswahl deines Ehemanns oder deiner Lebenspartnerin, deiner Hausärztin und deiner Autowerkstatt. Darüber hinaus ist jede Beziehung einzigartig, und es ist eine Beziehung, bei der beide Seiten mitwirken. Das, was zwischen zwei Menschen an Inspiration und Entwicklung möglich ist, hat mit beiden Seiten zu tun. Spirituelles Reifen entsteht durch Vertrauen und Inspiration und durch eigenes Bemühen und Verstehen.

DI: Das Modell „große Schwester“ oder „großer Bruder“ hört sich sehr interessant an. Kannst Du bitte etwas genauer erläutern, wie das in der Praxis aussehen kann?
SW: Wie sieht die Beziehung zu einer großen Schwester oder dem großen Bruder aus? Wenn sie gut funktioniert, schätzen wir ihre größere Lebenserfahrung und holen uns Rat in schwierigen Situationen. Wir vergöttern sie aber nicht, wie das kleine Kinder mit ihren Eltern tun. Ganz ähnlich läuft das in einer spirituellen Beziehung, die diesem Modell entspricht. In meinem spirituellen Leben gibt es drei Personen, zwei Lehrerinnen und einen Lehrer, die diesem Modell entsprechen. Sie stammen alle drei aus dem Westen. Ich halte sie nicht für erwacht, schätze aber ihre Reife, ihr Wissen und ihre spirituellen Erfahrungen und Einsichten. Ich frage sie um Rat, arbeite mit ihren Vorschlägen und bespreche meine Einsichten und Erfahrungen mit ihnen. Was diese Beziehungen für mich so produktiv macht, ist die relative Nähe zu meinem Leben. Gerade weil ich sie nicht „in den Himmel“ hebe, können sie mich besonders inspirieren. Gerade weil ich Schwächen in ihnen sehen kann, stärken sie mein Vertrauen, daß auch ich den Weg gehen und erwachen kann. In aller Kürze: Mir sagt dieses Modell eher zu, als die Vorstellung, daß mein Meister oder meine Meisterin „voll erwachte Buddhas“ sind. Ich kann sowieso nicht wissen, ob sie erwacht sind, da nur Buddhas Buddhas erkennen können. Ich mache mir also über ihre „objektiven“ Status keine Sorgen, sondern „arbeite“ mit der Wertschätzung, die ich spüren kann. Ich behaupte allerdings auch nicht, daß sie nicht erwacht sind, denn ich weiß es einfach nicht.

DI: Woran merkt man, ob man plötzlich Mutter-, bzw. Vaterprojektionen auf einen Lehrer überträgt. Das setzt sehr viel Bewusstheit voraus, oder?
SW: In der Psychotherapie spricht man von Übertragung, wenn man unerfüllte Wünsche auf die Psychotherapeutin „überträgt“. Durch diesen Mechanismus kommen alte Muster und Erwartungen zum Vorschein und können in der Therapie bewusst gemacht werden. In einer Therapie fragt man jemanden anders in einer schwierigen Lebenssituation um Rat fragt, und dann kommen Elternprojektionen besonders leicht hoch. Als Kinder waren die Eltern in der Regel die Menschen, die „alles“ wussten und konnten. Wenn wir dem Lehrer oder der Lehrerin sehr viel Macht zuschreiben und ihnen alle möglichen Fähigkeiten zutrauen, sind wir in die Kinderperspektive zurückgefallen und fühlen uns klein und hilfsbedürftig. Wir möchten die Lieblingsschülerin sein und suchen nach Zeichen der Zuneigung. Wir träumen von der Person und fühlen uns magisch angezogen. Der Mensch tritt in den Hintergrund und wir schauen mit den Augen kleiner Kinder. Wenn die Übertragung dazu führt, dass wir uns zutrauen, erwachsen zu werden, funktioniert er gut. Das wird möglich, wenn beide Seiten darum wissen. In der Regel kennen spirituelle LehrerInnen aus Asien diesen Mechanismus wenig oder gar nicht. Leider trifft das auch auf viele westliche Lehrende zu. In Asien war das nicht so tragisch, da die Beziehungen zu Lehrenden in der Regel nicht so „persönlich“ war. Sie war eingebettet in ein überpersönliches religiöses System.
Westliche Suchende teilen selten ein spirituelles System mit ihrem Lehrer. Sie beziehen sich eher individuell auf ihn. Und individuelle Beziehungen lösen eher den Übertragungsmechanismus aus als solche, die in ein religiöses System und kulturell geprägte Symbole eingebettet sind. C.G. Jung hat diesen Mechanismus schon in den fünfziger Jahren bei protestantischen Pfarrern beschrieben und eine psychotherapeutische Grundausbildung für die christliche Pfarrer und Priester vorgeschlagen. Menschen brauchen Lehrer. Es braucht diesen Impuls von außen, damit wir aus unseren eingefahrenen Bahnen heraus geschleudert werden. Ohne Lehrer schreiben wir uns Einsichten und besondere Erfahrungen selber zu, und hängen in der „Macher-Falle“. Spirituelle Entwicklung ist ein Geschenk, das wir nicht „selber machen“ können. Genauso wenig, wie wir uns das Leben schenken können. Wir brauchen Eltern.
In einer gereiften Beziehung können wir, wie bei den Eltern, Schwächen und Unzulänglichkeiten sehen und zulassen, ohne dass unsere Zuneigung und Achtung dadurch gefährdet wird. Als Erwachsene können wir „ertragen“ und annehmen, dass die biologischen und spirituellen Eltern Menschen sind.

DI: Es heißt, dass man mit einem spirituellen Lehrer die Mutter-, Vaterprojektionen durchleben muss, um spirituelle Reife zu erlangen. Nach einer solchen Erfahrung wäre jeder und alles ein spiritueller Meister für einen. Ist da was dran?
SW: Im besten Fall kann man mit dem geistigen Lehrer einige Elternthemen durchleben und bearbeiten. Es gibt da durchaus eine Analogie zur Eltern-Kind-Beziehung. Zuerst haben die Kinder kindliches und naives Vertrauen in ihre Eltern. In der Pubertät stellen sie alles, was die Eltern sagen, in Frage und gehen in Widerstand. Als Erwachsene können sie aufa eigenen Füßen stehen und doch die Eltern schätzen. Die Erziehung gilt dann als geglückt, wenn das Kind erwachsen wird. Eine spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung scheint oft nach dem selben Muster zu verlaufen. Zuerst himmeln wir die Lehrerin oder den Lehrer an und trauen ihnen nur Gutes zu. Dann fangen wir an, den Weg und die Lehren in Frage zu stellen, und irgendwann sind wir hoffentlich fähig, spirituell auf eigenen Füßen zustehen. Eine Lehrer-Schüler-Beziehung erfüllt dann ihre Funktion, wenn man inspiriert durch das Vorbild Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnt. Wie in der Eltern-Kind-Beziehung ist das Ziel, dass wir selbständig werden und nicht, dass wir noch mit vierzig oder fünfzig unsere Eltern oder unseren spirituellen Lehrer „fragen“, wie wir arbeiten und mit wem wir leben sollen. Die Beziehung bleibt etwas besonderes, wie auch die Beziehung zu den Eltern. Sie haben uns das Leben geschenkt und der Lehrer hat uns das spirituelle Leben geschenkt. In beiden Fällen werden wir fähig, auf eigenen Beinen zu stehen und von anderen zu lernen. „Wir müssen die Worte der Lehren solange hören, bis die Tatsachen lauter sprechen als die Worte.“, sagt der indische Meister Nisargadatta.

DI: Kann man zwei spirituelle Lehrer gleichzeitig haben?
SW: Für eine Zeit sicherlich. Meist schiebt sich aber eine Beziehung in den Vordergrund. Denn jede Person lehrt auf ihre ganz besondere Art, und lernen heißt auch, sich einlassen auf einen Stil der Übung. Vermutlich wird dich jede Person etwas anderes lehren. Alle Lamas, die ich kenne, hatten mehrere Lehrer, wenn sie auch meist eine Beziehung als etwas ganz besonderes beschrieben. Oft hat die Person, durch die du das erste Mal eine Ahnung bekommen hast, worum es eigentlich geht, eine besondere Bedeutung, selbst wenn du sie nur einige Male in deinem Leben siehst. Häufig inspiriert dich eine Person ganz besonders. Es reicht, wenn du sie nur einmal im Jahr siehst. Die konkrete Begleitung bei der Übung im Alltag kann dann durchaus eine andere Person übernehmen. Ich selbst hatte das Glück, nacheinander drei wunderbaren Menschen zu begegnen, die mich auf meinem Weg besonders inspiriert haben Auch in der Zeit, als ich bei ihnen lernte, gab es andere Menschen, die mich in meiner regelmäßigen Übung betreut und unterstützt haben. Du brauchst Inspiration und eine Übung. Alle, die dich darin unterstützen, sind wunderbar. Es ist wichtig, die eigene Persönlichkeit zu berücksichtigen. Wer Verbindlichkeiten scheut, tut gut daran, zunächst zwei, drei Jahre bei einer Richtung, Übung und Person zu bleiben. Wer sich zu sehr anklammert, wird vielleicht von seiner Lehrerin auch einmal zu jemand anderem geschickt. Eine Faustregel geht von fünf Jahren Lehrzeit bei einer Person oder Tradition aus. Dann kann man mit Zustimmung des Lehrers oder der Lehrerin bei anderen LehrerInnen weiter lernen. Aber das ist eine Faustregel, keine Vorschrift. Und: Jede Beziehung ist einzigartig.

DI: Woran erkenne ich, dass ein Lehrer diese Weitsicht besitzt?
SW: Wenn du von dem, was ein Lehrer sagt, tief berührt wirst, dann ist es gut. Wenn man einem Lehrer zuhört und er spricht über ein bestimmtes Thema wie zum Beispiel Liebe, Mitgefühl oder Praxis, und du verstehst ihn, dann ist es gut. Mir ging es so mit Lama Yeshe. Wenn er zum Beispiel über Mitgefühl oder Offenheit gesprochen hat, hat mir das völlig eingeleuchtet. Ich wusste, was er damit gemeint hat. Ich hatte überhaupt keine Zweifel an dem, was er sagte. Und wenn Lama über die „Relativität“ des Ich sprach, konnte ich das verstehen, ohne Angst.

DI: Aber man kann doch auch berührt sein und gleichzeitig die Ebenen vermischen und sich in einen Lehrer verlieben. Und wenn man Pech hat, geht es dem Lehrer genauso und es entsteht Missbrauch. Kann man dem vorbeugen oder ist diese Erfahrung dann auch eine anscheinend für die Beteiligten wichtige und unumgehbare Erfahrung auf dem Weg?
SW: Auch kleine Mädchen wollen den Papa heiraten und kleine Jungen lieben die Mama. Fast alle Kinder verlieben sich in die Schullehrerinnen und -lehrer. Wenn eine Beziehung unser Herz öffnet, berührt sie die Liebe in uns. In den meisten Fällen hat das nichts mit erotischer Liebe zu tun. Wir „fühlen uns wie verliebt, ohne verliebt zu sein“. Zu einer erotischen Liebe gehört meines Erachtens eine gleichwertige Beziehung. In Asien war es spirituellen Meistern mehr oder weniger gestattet, Affären mit ihren Schülerinnen zu haben. Man sah das nicht so eng, denn, so dachte man, Lehrer sind schließlich auch bloß Menschen, und sie bleiben halt Männer. Wenn westliche Männer das unreflektiert nachahmen und damit patriarchale Muster verstärken und rechtfertigen, ist das sehr bedauerlich. In vielen Fällen ist eine Beziehung zwischen Lehrer und Schülerin eine Art spiritueller Inzest, und das schadet beiden Seiten. Aber Liebe lässt sich weder kontrollieren noch in klare Regeln einsperren. Sie kennt keine Gesetze. Das war schon immer so. Man muss also jeden Fall individuell betrachten. Der beste Schutz vor Missbrauch ist Aufklärung. Es ist gut, wenn vor allem Schülerinnen wissen, dass Verliebtheitsgefühle auch bei Lehrern vorkommen können. Sie sollten aber in der Regel nicht ausgelebt werden. Wenn sie wissen, dass sie nein sagen können und es in der Regel auch sollten.

DI: Gibt es ein Kriterium dafür, worauf man bei der Auswahl des Lehrers achten soll?
SW: Eine Faustregel besagt, dass dich ein Lehrer inspirieren muss. Es muss etwas in dir entstehen, so dass sich das Herz öffnet, und der Geist sich öffnet. Selbst wenn es nach dem Vortrag wieder zuklappt. Für einen Moment wird alles weiter. Die Perspektive wird offener, und dein Herz geht auf. Und es sollte so sein, dass die Schwächen des Lehrers oder der Lehrerin den Lernprozess nicht stören. Dass heißt, dass die Schwächen, die du siehst, das, was du von dieser Person lernen kannst, nicht behindern. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Lehrern. Es gibt ruhige, extrovertierte oder introvertierte Menschen.

DI: Hat ein spiritueller Lehrer irgendwann ausgelernt, so wie zum Beispiel ein Professor an der Universität, der sein Wissen nur noch an Studenten weitergibt? (gut so)
SW: Ich kenne keinen Lehrer, der sagt, er wäre „fertig“. Selbst der Dalai Lama hat noch Tutoren gehabt. Selbst wenn sie erwacht sind, üben die tibetischen Lehrer weiter, um ihren Geist von alten Eindrücken zu reinigen. Darüber hinaus haben sie weiterhin sehr großen Respekt vor den Lehren. Überlieferte Texte und Anweisungen können einen darin unterstützen, eigenen Einsichten und Blickwinkel immer wieder neu zu überprüfen, denn es gibt so viele Fallen.
Für mich als Lehrerin ist es immer wichtig, mit Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, die unterrichten. Sich mit ihnen auszutauschen ist sehr wichtig. Wenn man merkt, dass man die anderen als Konkurrenten empfindet, dann sollte man sich diesen Aspekt mal etwas genauer anschauen. Beim eigenen Lehrer kann man noch vieles zudecken, denn ihm oder ihr begegnen wir meistens mit sehr Dankbarkeit Aber Kollegen und Kolleginnen, die man achtet, können ein wunderbarer Spiegel sein und verdeutlichen, wo man selbst steht.
Das nächste Kriterium ist die Schülerschaft eines Meisters: Wenn die Schüler eher abgehoben oder arrogant sind, dann kann der Lehrer selbst nicht sehr weit entwickelt sein. Das heißt, auch die menschliche Reife der Schüler sagt einiges über den Lehrer aus. Wenn Schein-Heiligkeit herrscht, oder alle oberflächlich nett zueinander sind, unterschwellig aber Konkurrenz und Eifersucht brodeln, dann ist es kein gutes Zeichen. Natürlich gibt es Neid und Konkurrenz, aber es muss im Rahmen bleiben.

DI: Ich habe eine Frage zu tibetischen Lehrern. Sie sterben relativ jung. Lama Yeshe, den du vorhin erwähnt hast, zum Beispiel ist nur 49 Jahre alt geworden. Warum?
SW: Viele Menschen glauben, dass Erleuchtung bedeutet, immer gesund, jung und fröhlich zu sein. Spirituelle Lehrer haben genauso wie alle anderen Menschen auch eine Biographie. Einige leben lange, andere nicht. Es ist bekannt, das die Tibeter nicht sehr alt werden. Darüber hinaus haben viele Tibeter die Flucht von Tibet nach Indien erlebt. Sie hatten viel Angst und lebten dann in indischen Flüchtlingslagern unter schwierigen Bedingungen. Sie hatten wenig Geld und haben sich über einen langen Zeitraum sehr schlecht ernährt. Das wirkt sich dies natürlich auf den Körper aus. Darüber hinaus sind sie auch Kinder ihrer Eltern und tragen Anlagen zu Krankheiten in sich oder haben organische Schäden wie zum Beispiel Lama Yeshe.

DI: Aber er ist doch bereits ein Jahr später wieder geboren worden? Warum kann er dann nicht direkt 90 Jahre alt werden?
SW: Das hat mit bedingtem Entstehen zu tun. Zu erwachen, kann wohl kaum bedeuten, dass der Körper dann von einem Moment auf den anderen vollkommen gesund wird. Man kann nur im Rahmen der Möglichkeit das Beste tun. Auch hier zeigt, sich, dass wir oftmals eine falsche Vorstellung von Erleuchtung und Erleuchteten haben. Viele hohe Lamas hatten Krebs. Und man weiß nicht genau, womit das zu tun hat. Schlecht Umweltbedingungen beispielsweise. Darüber hinaus kann der Tod eines Lehrers einen enormen Entwicklungsschub bei einem Schüler verursachen, weil er nach dem Tod begreift, dass er auf eigenen Beinen stehen muss.

DI: Wie kann man vermeiden, zu viel Heilserwartungen in einen Lehrer hinein zu projizieren?
SW: Ich habe immer den Eindruck, dass das wichtigste auf dem Weg die eigene Praxis ist. Die Hauptfunktion einer Lehrerin oder eines Lehrers besteht darin, dass das eigene Selbstvertrauen genährt wird, denn der Lehrer dient als Spiegel für den Schüler. Er oder sie sollte die Schüler bestärken, damit ihr Selbstvertrauen und das Vertrauen auf die eigene Kraft wächst. Wenn ein Schüler aber immer nur damit beschäftigt ist, seinen Lehrer zu zitieren, oder zu sagen: „Mein Meister ist der Beste.“, dann ist es ein Zeichen, dass er zu sehr mit den Qualitäten des Lehrers identifiziert ist.

DI: Es gibt Lehrer, die als Crazy-Wisdom-Meister bezeichnet werden. Sie stellen ihre Schüler durch ihr exzentrisches Verhalten auf eine harte Probe. Einer davon war Gurdjeff, der seine Schüler schwerste, scheinbar sinnlose körperliche Arbeiten ausführen ließ, er beleidigte sie, hielt sie an, Unmengen Alkohol zu trinken, und prüfte dann, wie klar sie noch waren. Und all das nur, um den Schüler aufzuwecken. Findet hier nicht eine enorme Gradwanderung statt? Und wo ist die Grenze zur Verrücktheit? Und wie ist sie erkennbar?
SW: Meine Empfehlung ist: Gib deinen gesunden Menschenverstand nicht an der Tür zum Tempel oder zum Zentrum ab. Ich finde es wichtig, dass vor allem westliche Lehrende über die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden sprechen. Und denke daran, niemand zwingt dich, Schüler eines exzentrischen Lehrers zu werden. Wer sich solche Lehrer sucht, braucht sie vielleicht. Von außen kann man da nicht viel machen. Man kann den Menschen ja auch nicht verbieten, sich in schwierige Partner zu verlieben. Wer hört schon auf die Warnungen von Freundinnen und Freunden, wenn Liebe oder spirituelle Anziehung im Spiel ist?

DI: Vielen Dank für das Interview.

Zur Autorin
Sylvia Wetzel befasst sich seit 1977 mit dem Buddhismus. Ausbildung im tibetischen Buddhismus. Von 1985 bis 1987 lebte sie als Nonne. Sie ist Vorsitzende der Buddhistischen Akademie Berlin Brandenburg und Mitbegründerin von Buddhistische Perspektiven, die von Sylvia Wetzel und drei weiteren buddhistischen Lehrerinnen geleitet werden. Die Meditationslehrerin und Publizistin (u.a. von: Frauen und Buddhismus; Leichter leben) ist mit ihren kulturkritischen und feministischen Beiträgen eine der Pionierinnen des Buddhismus in Europa.