Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Die Weisheit des Herzsutra
Vortrag von Sylvia Wetzel in Hannover im April 2002
Ich begrüße Sie zu einem Vortrag über ein sehr interessantes Thema. (Bei diesen Worten fällt eine Blumenvase vor der Vortragenden um.) Was fällt um, wenn eine Blumenvase umfällt? Was fällt nicht um, wenn eine Blumenvase umfällt? Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Etwas davon erzählt uns die paradoxe Weisheit des Herzsutra. Ich möchte an den Anfang einige Zitate des indischen Meisters Nagarjuna aus dem 2.Jh. stellen, die mich seit vielen Jahren begleiten:
Buddhas sagen: Leerheit ist das Aufgeben von Ansichten.
Wer an Leerheit glaubt, ist unheilbar. Gläubige glauben an Buddhas, die im Nirvana erlöschen.
Stellt Euch keine leeren Buddhas vor, die erlöschen oder nicht. Gibt es Bewegung, bevor ich den Fuß hebe?
Gibt es einen vergangenen oder künftigen Schritt,
in dem das Gehen einen Anfang hätte?
Das ist das Löwengebrüll des Nagarjuna. Er war ein indischer Weiser, der erste, der sechs Jahrhunderte nach dem Tode des Buddha mit einer ähnlichen Kraft sprach. So sieht das der Übersetzer und Herausgeber von Nagarjunas Text, Verse aus der Mitte, Stephen Bachelor (Berlin: Theseus Verlag 2002). Nagarjuna lebte im 2. Jh. u.Z., über ein halbes Jahrtausend nach dem historischen Buddha. Einer meiner Lieblingssätze ist: „Wer an Leerheit glaubt, ist unheilbar.“
„Form ist Leere, und Leere ist Form.“ Das ist die Kernaussage des Mahayana, die Kernaussage des Herzsutra. Es heißt Herzsutra, weil es über das Herz der Lehren spricht, über den Kern des Kern-Losen. Es gibt zwar keinen Kern, aber das ist eben der Kern der Lehren des Mahayana. Philosophisch ausgedrückt geht es dabei um den Zusammenhang zwischen Leerheit und bedingtem Entstehen. Das Mahayana spricht von den zwei Ebenen von Wirklichkeit. In diesen Lehren wird versucht, zwei Erfahrungen begrifflich auf den Punkt zu bringen, die sich völlig widersprechen. Wir alle erleben mit unseren fünf Sinnen die Welt: Wir sehen Farben und Formen, mehr nicht. Wir sehen weder Menschen, noch Stühle, noch Bäume. Wir sehen nur Form und Farbe, genaugenommen sogar nur Farben, und die Formen ergeben sich aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Farben. Wir riechen Gerüche, schmecken unterschiedliche Arten von Geschmack, hören Töne, spüren Empfindungen, und wir denken uns eine ganze Menge dazu. Erst wenn das Denken hinzukommt, „sehen“ wir Bäume und „hören“ wir ein Auto hupen.
Zwei Ebenen von Wirklichkeit
Wir erleben die Welt mit den fünf Sinnen und dem Denken. Alle, die wir jetzt hier sitzen, erleben eine Welt: Wir sehen Menschen und Stühle, und wir hören Worte, denen wir eine Bedeutung zuschreiben. Manchmal gibt es dann Momente, vielleicht sogar heute Abend, da erleben wir etwas, das wir mit Worten nicht erfassen können. Wir sehen jemanden an, und da springt ein Funke über. Die andere Person lächelt, und etwas kommt im Herzen an. Wir können uns nun hundert Jahre lang hinsetzen und hunderttausend Wörter auf Papier bringen, wir könnten nicht beschreiben, was im Moment eines Lächelns, einer Begegnung geschieht.
Das Mahayana versucht nun, im Einklang mit vielen Philosophien und Religionen, diese beiden Erfahrungen zu fassen: Die eine Erfahrung können wir dreidimensional beschreiben. Wir sehen, riechen, hören, schmecken und spüren. Da bist Du, und da ist die Welt. Das kann man messen und beschreiben. Und dann gibt es die „wirklich“ wichtigen Momente, die Momente, die uns noch tiefer berühren als Sehen, Riechen, Hören, Schmecken. Das geschieht in der Liebe und im Verstehen, in der Meditation und, wie es heißt, sogar beim Niesen! Da gibt es besondere Momente. Es geschieht auch beim Sehen, wenn es nicht mehr um Form und Farbe geht, sondern um das Schauen. Es geschieht beim Hören, wenn es nicht mehr um Melodien geht, sondern um „reines“ Hören. Da gibt es Momente, die sind nicht fassbar. Das fasst unsere Schulweisheit nicht. Es ist un-fassbar, un-greifbar, unsagbar. Man kann es nur in Negativen formulieren, weil es anders ist als unsere gewöhnlichen Erfahrungen. Und doch ist es eine positive Erfahrung, die uns tief berührt. Diese andere Dimension nennt der Buddhismus philosophisch nüchtern und gleichzeitig psychologisch treffend „Leerheit“. Das lebendige Leben ist „leer“ von unseren normalen Vorstellungen. Sie passen nicht mehr. Sie fassen das nicht.
Leben in seiner intensivsten Dimension ist erlebbar, aber nicht begreifbar, nicht fassbar. Alle hier im Raum nicken jetzt etwas versonnen. Ihr Blick sagt: „Ja, ich weiß, wovon Sie reden.“ Leben hat eine Dimension, da versagen Worte. Da ist etwas eindeutig erlebbar, es ist nicht „nichts“, aber man kann den Finger nicht darauf legen. Im Zen heißt es: „Worte sind Finger, die auf den Mond zeigen.“ Wenn jemand auf den Mond zeigt, dann schauen wir auf den Mond und nichts auf den Finger. Wenn wir den Fingerzeig aber nicht verstehen, nicht begreifen, dass es um den Mond geht, dann beschäftigen wir uns eben mit dem Finger. Wir beschreiben und messen die Finger.
Wir bemerken, dass wir uns in sinnlosen Beschreibungen der Fingerzeige verloren haben, wenn wir existentielle Fragen stellen: „Was sind Gedanken und Gefühle, Zeit und Raum? Wo ist hier? Was ist sehen, jenseits dessen, was man mit Worten sagen kann: Rot, gelb, blau. Was ist Farbe? Was ist hören, was ist lieben, begegnen? Was ist das?“ „Das weiß ich nicht.“, sagen unisono die Weisen aller Zeiten und Räume. Das bleibt ein Geheimnis für den denkenden Geist. Was wir sind und was die Welt ist, wissen wir nicht. Das heißt im Buddhismus Leerheit. Wir glauben „es“ aber zu wissen und reden darüber. Wir denken: „Natürlich, Form ist Form. Das ist doch logisch! Tasse ist Tasse, und wenn nichts darin ist, ist das Leerheit. Also Form ist Form, und Leerheit ist Leerheit. Jetzt ist alles klar! Aber das Mahayana behauptet: „Form ist Leere und Leere ist Form!“ Sind sie verrückt geworden, die Buddhisten?
Manchmal klingt Nagarjuna ein bisschen verrückt. Form ist Form, Leere ist Leere. Entweder die Tasse ist da, oder sie ist nicht da. Das Mahayana behauptet, es gibt diese dreidimensionale Erfahrung der Form, aber gleichzeitig „ist“ die Tasse auch Leerheit. Das bemerken wir allerdings erst dann, wenn wir darüber nachdenken, was eigentlich Tasse ist. Man kann es letztlich nicht beschreiben, weil man immer nur von einem bekannten Ding auf etwas anderes Bekanntes und dann auf das nächste Bekannte verweisen kann. Eine Tasse ist Ton plus Glasur plus eine bestimmte Form. Wenn man dann immer weiter geht – das nennt man im Buddhismus letztendliche Analyse – fragt man sich: „Ja, und was ist Glasur und was ist Ton?“ Irgendwann landet man bei Atomen und Elektronen und fragt sich: „Ja und was sind Atome und Elektronen? Irgendwann sagen selbst unsere Wissenschaftler dann: „Tja, da wird man religiös.“ Das hat die ältere Generation von Wissenschaftlern auch gesagt: „Da fällt mir nichts mehr ein, außer Gott oder Transzendenz.“
Das Mahayana behauptet, dass man keine dieser beiden Erfahrungen auf die andere reduzieren kann. Man kann nicht sagen: „Form ist letztendlich Leere. Die Form gibt es eigentlich gar nicht. Das ist alles nur Schein. Form gibt es gar nicht!“ Man kann auch nicht sagen: „Aber die Tasse ist eine Tasse. Sie war immer eine Tasse und wird immer eine Tasse sein!“ Das geht auch nicht. Irgendwie ist Form Leere und Leere Form. Keins von beiden existiert allein für sich, als nur Form oder nur Leere. Keins von beiden kann man auf das andere reduzieren. Schauen wir uns die Form einmal genauer an: „Was ist die Welt, die Welt der Formen?“ Das Mahayana sagt: „Das sind Sinneseindrücke – Hören, Riechen, Schmecken, Spüren und Sehen plus Konzepte.“ Unsere Benennungen und Vorstellungen sind Konzepte, sind Übereinkünfte, Konventionen, Zuschreibungen, und alles, was es gibt, entsteht bedingt. Es gibt Ursachen und Bedingungen, Bestandteile und Konzepte. Alles entsteht bedingt: Buddhas, frisch gebügelte Hemden, Essen, Bücher, Tassen, Tee, Dharmavorträge und Mikrophone, einfach alles. Was wir sind und was die Welt ist, sind Sinneseindrücke plus Konzepte.
Wie „existiert“ eine Tasse?
Die Dingen entstehen bedingt durch viele Faktoren. Wenn man mit einem analytischen Geist versucht, alle Faktoren zu sammeln, z.B. mit einem Computer, mit einem ganz tollen Programm, dann klappt das nicht. Ein Gesamtbild der Wirklichkeit eines Dings entsteht nicht, wenn man alle Daten darüber sammelt. Dabei kommt nicht viel Brauchbares heraus. An den Dingen ist etwas unfassbar, das nennen die Buddhisten Leerheit. Und dennoch gibt es die Dinge, und deswegen wird manchmal die paradoxe Formulierung verwendet: „Die Tasse ist, und sie ist nicht. Alles ist, und es ist nicht.“
Philosophisch-buddhistisch ausgedrückt heißt es: „Alles ist leer von Selbstexistenz.“ So sagt es die Gelehrten der Gelugschule des tibetischen Buddhismus. Sie sind sehr gut ausgebildet und begrifflich genau: „Alles ist leer von Selbstexistenz, und es funktioniert doch!“ Letzteres ist nach der Gelugschule die Definition von Existenz: „Etwas existiert, wenn es funktioniert.“ Also: Die Tasse existiert, wenn sie als Tasse funktioniert. Eine Familie existiert, wenn sie als Familie funktioniert. Mit Hilfe dieses Ansatzes bemerkt man schnell: Die Dinge sind ziemlich bedingt. Sie entstehen, bestehen eine Weile und vergehen wieder. Beziehungen existieren, wenn sie funktionieren, und wenn sie nicht mehr funktionieren, dann sind sie im Prozess des Vergehens, was jeder Buddhist und jede Buddhistin akzeptiert als Teil des Lebens: „Alles ist unbeständig.“
Also Kaffee existiert, wenn das schwarze Gebräu als Kaffee funktioniert. Eine Beziehung existiert, wenn sie als Beziehung funktioniert, ein Dharmavortrag existiert, wenn er als solcher funktioniert. Es gibt Dharmavorträge nicht aus sich heraus. Wenn jetzt hier zwei, drei Leute säßen, die keine Ahnung von Buddhismus haben und sich auch nicht dafür interessieren, sie kommen vielleicht von der Tankstelle nebenan, dann würden sie keinen Dharmavortrag hören, sondern nur komische Wörter. Sie würden natürlich einzelne Worte verstehen, aber das Ganze würde keinen großen Sinn für sie ergeben. Es gibt also nicht einmal Dharmavorträge aus sich heraus. Auch sie sind bedingt.
Leerheit ist ein Heilmittel fürs Festhalten
Was bedeutet Leerheit, Leerheit von Selbstexistenz, Leerheit von Zuschreibungen? Man kann sich der Leerheit über Unbeständigkeit annähern. Man denkt über die Tasse nach und überlegt: „Diese Tasse war nicht immer eine Tasse, sie ist zwar jetzt eine Tasse, aber sie wird irgendwann keine Tasse mehr sein. Spätestens wenn ich sie jetzt an die Wand werfe und sie zerbricht, dann war das eine Tasse.“ Nachdenken über Unbeständigkeit ist eine Annäherung an Leerheit. Man versteht: „Nichts bleibt immer so.“ Bei materiellen Dingen versteht man das relativ leicht.
Es ist schwer zu begreifen, wenn es um komplexere Einheiten geht wie Mein Zuhause oder um eine Gesellschaft mit unterschiedlichen Schichten oder um Staaten mit Grenzen. Unbeständigkeit ist schwer zu begreifen, wenn wir uns fragen: „Was ist eine richtige Frau? Was ist ein richtiger Mann? Was ist eine richtige Beziehung? Was ist ein richtiges Dharmazentrum?“ Bei diesen Fragen kriegt man sich leicht in die Haare.
Die meisten Menschen können sich mit einigem Nachdenken darauf verständigen , dass alles veränderlich und unbeständig ist. Wir verstehen dann: „Das ist nicht immer einfach so.“ Das ist der erste Schritt zur Verständigung. Dann können wir leichter Kompromisse schließen. Wenn wir Unbeständigkeit auf dieser Ebene verstehen, können wir besser mit Unterschieden leben. Wir ahnen, dass alles unbeständig ist, auch die eigene Meinung. Auch sie bedingt entstanden, vielleicht durch sehr selektive Informationen, sehr einseitige Blickwinkel. Wir haben immer nur von einer Perspektive aus geschaut und die anderen möglichen Blickwinkel nicht in Betracht gezogen. Alles wandelt sich unablässig. Und so bedeutet Leerheit, dass Wirklichkeit letztlich nicht fassbar ist. Philosophisch formuliert: Der Verstand begreift nur die Oberfläche der Dinge. Er kann nicht begreifen, was Wirklichkeit ist, und deswegen wird Leerheit manchmal die letztendliche Wahrheit genannt.
Lama Yeshe hat uns Ende der siebziger Jahre im Kloster Kopan in Nepal eine sehr einfache Meditation über Leerheit beigebracht. Er hat gesagt: „Denkt bitte nicht darüber nach, was Wirklichkeit ist, dann kommt Ihr in Teufels Küche. Denkt nicht darüber nach, was das wirkliche Kopan ist, jenseits Eurer Verblendung, sondern überlegt lieber, was Ihr über Kopan denkt. Was bedeutet dieses Kloster für Euch? Sammelt eure Ansichten und Meinungen und lasst diese eine nach der anderen los. Am Schluss steht ihr mit offenem Mund da und sagt: ´Ich weiß nicht was Kopan ist.´ Bleibt dabei für eine Weile dabei, ruht in diesem Staunen, in diesem ´Ich weiß nicht.´“ Diese Übung kann man auch mit Menschen machen, die man ablehnt. Es ist eine sehr hilfreiche Meditation. Man kann sie auch mit Menschen durchführen, die man liebt, aber das fällt uns ein bisschen schwerer.
Leerheit ist ein Heilmittel für das Festhalten. Es ist eine Medizin, die man einnehmen sollte, wenn man denkt: „Es ist so, und ich hab recht, und mein Standpunkt ist objektiv der Beste. Natürlich gibt es andere Standpunkte, aber meiner ist wirklich besser. Ich hab am meisten studiert und am meisten nachgedacht. Ich bin das älteste Mitglied der Gruppe. Ich weiß Bescheid. Ich bin eine Pionierin, ich kenne die früheren Zeiten.“ Wer so denkt, braucht die Medizin der Leerheit als Heilmittel gegen das Festhalten. „Aber bitte nehmt zur Kenntnis“, sagen die Lamas gerne: „die Buddhas laufen nicht durch die Welt und sagen ´alles ist leer, alles ist leer´, sondern sie sagen: ´Die Welt ist wie sie ist.´, und sie machen sich keine falschen Vorstellungen. Sie müssen nicht immer über Leerheit reden.“ Leerheit ist ein Heilmittel für die, die keine Fragen mehr haben, die alles wissen. Sie machen um alles, was sie erleben, einen schwarzen, schönen Rahmen und glaube: „So ist es! Ich weiß Bescheid.“ Wenn wir so denken, brauchen wir Leerheit als Heilmittel fürs Festhalten.
Wege zur Leerheit
Wie kann man sich einem Verständnis von Leerheit annähern? Das ist die große Frage. Man kann darüber sprechen, und es klingt auch gut und leuchtet auch ein. Wir sind alle intelligent genug und kapieren das mit unserem Verstand. Das ist das Schöne am Verstand. Er kann ziemlich viel verstehen. Das ist sehr anziehend. Wenn man aber denkt, das sei alles, dann kriegt man Probleme. Wie kann man sich der Leerheit nähern? Wie kann man die Weisheit entdecken, die Leerheit versteht? So heißt es in der Gelugschule. Wie kann man sie entwickeln? Es gibt drei unterschiedliche Herangehensweisen: die logische, die poetische oder symbolische und die devotionale. Zu jedem Ansatz gibt es eine Reihe von Übungen.
Eine logische Annäherung an Leerheit ist: „Alles ist leer, weil es bedingt entsteht.“ Weil alles veränderlich und abhängig von ganz vielen Bedingungen ist, deshalb ist alles „leer von Eigenexistenz“. Solange die Bedingungen da sind, bleibt ein Ding bestehen, und wenn die Bedingungen sich verändern, verändert es sich, und irgendwann vergeht es. Deshalb ist es leer. Deswegen gibt es nichts, von dem man sagen kann: „So ist es immer und ewig, und so ist es richtig.“ Alles verändert sich mit der Zeit. Das Römische Reich hat einige Jahrhunderte bestanden, auch die Herrschaft der Kaiser von China hat ziemlich lange gedauert, sogar bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die katholische Kirche ist die älteste „Firma“ der Welt, sie besteht schon zweitausend Jahre. Manche Reiche bestehen ziemlich lange, das „Tausendjährige Reich“ des Adolf Hitler zum Glück nur zwölf Jahre. Manche Zentren in Deutschland bestehen schon seit den fünfziger Jahren. Die Buddhistische Gesellschaft Berlin hat 2001 ihr fünfzigjähriges Bestehen gefeiert. Manche Phänomene dauern also etwas länger, aber alles vergeht. Das ist die erste Begründung für Leerheit, die erste Annäherung.: Alles ist leer von Eigenexistenz, weil es bedingt entsteht, weil es veränderlich ist. Dann heißt es umgekehrt: Weil alles bedingt entsteht, ist es leer.
Man kann sich meditativ von beiden Seiten annähern. Eine beliebte Meditation in der Gelugschule ist das bedingte Entstehen. Wenn man darüber nachdenkt, wie alles bedingt entstanden ist, landet man schließlich bei der Einsicht: „Alles entsteht bedingt. Also ist es leer von Eigenexistenz. Und dennoch funktioniert es.“ Andere Schulen, wie die Zenschulen, arbeiten mehr mit Leerheit. Da muss man absurde Koans lösen, und irgendwann bricht der Verstand zusammen, und es tut sich etwas auf, der Raum, in dem alles geschieht. Das ist eine beliebte Annäherung an Leerheit.
Die Dinge sind die Bedeutung, die wir ihnen geben
Eine weitere Übung, auch sehr beliebt in der Gelug-Tradition, geht ebenfalls eher analytisch vor. Man reflektiert über die bedingte Bedeutung der Dinge: Alles ist leer von Eigenexistenz, weil erst die Bedeutung, die wir den Dingen geben, sie zu dem machen, was für uns wichtig ist. Der US-amerikanische Dharma-Lehrer Alex Berzin, der seit Ende der neunziger Jahre in Berlin lebt, sagt häufig: „Dinge sind die Bedeutungen, die wir ihnen geben.“ Sein Lieblingsbeispiel ist die Armbanduhr in Indien. Angenommen ist besitze eine billige Casio-Uhr für zehn Euro, Wenn ich nach Indien reise und sie indischen Kindern zeige, ist diese Uhr ein Symbol des westlichen Reichtums. Sie ist einfach nur ganz toll! Wenn ich mit derselben Casio-Uhr eine Vernissage in Berlin besuche, trage ich für die Kunst-Schickeria Schund. Eine billige Casio-Uhr mit einer verkratzten Plastikhülle ist einfach das Letzte. In Indien ist es ein Schatz, Ausdruck des reichen Westens, ein Vermögen, auf einer Berliner Vernissage ist es nur Ausdruck von schlechtem Geschmack.
Für ein Kind von zwei Jahren ist eine Uhr ein hinreißendes Spielzeug, und wenn dann die berühmte indische Ziege kommt und die Uhr mit einem Biss verschlingt, dann ist sie für sie köstliches Futter. Was ist jetzt richtig, was ist es jetzt objektiv? Vom Standpunkt der Menschen ist es zumindest eine Uhr, allerdings erst ab einem bestimmten Alter. Zweijährige sind auch schon Menschen und erkennen es nicht als Uhr. Ältere Leute, die bereits etwas verwirrt sind, legen sie den Kühlschrank und finden sie dann nicht mehr, weil sie die Bedeutung vergessen. Das ist eine weitere Annäherung an Leerheit. Man macht sich klar: Alles, was wir benutzen, ist erst dann „etwas“ für uns, wenn wir ihm eine Bedeutung geben oder seine Bedeutung erkennen.
Als ich das erste Mal im Sommer 1977 in Dharamsala, Nordindien, war, machte ich einen Spaziergang, und es begann heftig zu regnen, den es herrschte Monsun. Da lud mich eine tibetische Familie in ihr Haus ein, und sie boten mir, auf Tibetisch, Tee an. Ich setzte die Tasse mit Tee an meine Lippen und nahm einen ersten Schluck und war fassungslos: Der Tee schmeckte salzig und fettig. Ich dachte: „Ich habe sie nicht richtig verstanden, die meinten wohl Suppe.“ Ich lernte schnell: Das war Buttertee. Ich könnte das Getränk zunächst nicht als köstlichen tibetischen Buttertee wertschätzen, weil ich das Konzept nicht kannte. Ich kannte alle Bestandteile: Butter, Salz, Tee, Milch, aber in dieser Kombination war mir das Gebräu fremd. Überlegungen dieser Art können uns begreifen helfen, dass nichts einfach so ist, sondern erst durch die Benennung, die wir ihm geben, zu etwas wird.
Es gibt eine berühmte Geschichte Die Ankunft der ersten Weißen in Australien. Die weißen Eroberer näherten sich mit ihren Segelschiffen dem Ufer, und einige Eingeborene am Strand sahen ihnen dabei zu. Als die Verständigung ein paar Wochen später einigermaßen klappte, erzählten die Eingeborenen den Weißen, sie hätten keine Schiffe gesehen, obwohl sie natürlich etwas sahen, das sich dem Ufer näherte. Sie „sahen“ Fische, die in einer ganz seltsamen Formation durch die Luft sprangen, wie sie das sie vorher noch nie gesehen hatten. Sie sahen also Formen und Farben und interpretierten sie im Kontext ihrer Weltsicht. Da sie keine großen Segelschiffe kannten, „sahen“ sie weiter oben weiße Fische und weiter unten braune Fische, die in einer ganz seltsamen Formation durch die Luft sprangen. So sind die Dinge die Bedeutung, die wir ihnen auf grund unserer Erfahrung geben. Das ist eine Annäherung an Leerheit über die Benennung. Man kann Leerheit also über bedingtes Entstehen verstehen, und damit über die Vergänglichkeit, über die Unbeständigkeit der Dinge oder über die Benennung. Wir denken darüber nach, dass die Dinge durch ihre Bedeutung für uns wichtig sind. Darüber, wie wichtig die Bedeutung ist, damit etwas für uns als dies oder das funktioniert. Das war die eher logisch Herangehensweise, die logische Annäherung an Leerheit.
Poesie der Leerheit
Dann gibt es die poetische, die symbolische Annäherung. Viele Verse in Nagarjuna Text Verse aus der Mitte nehmen Bilder aus der Alltagswelt auf und spielen mit unseren Wahrnehmungen, mit dem Sehen und mit dem Gehen. Nagarjuna nimmt alle fünf Sinne als Beispiel: Hören, Riechen, Schmecken, Gehen und Spüren. Dann gibt es Mahayana-Sutras in denen unglaubliche Welten beschrieben werden: „In jeder Pore meiner Hand sind Millionen Buddhafelder und Buddha Amithaba spricht zu vielen Bodhisattvas mit diesen und jenen Namen, und in einem Paralleluniversum spricht ein Buddha gleichen Namens, dessen Schüler und Schülerinnen auch alle dieselben Namen tragen, und es läuft alles millionenfach parallel. Irgendwann gibt der Verstand auf. Ich habe in einer meiner letzten Einzelklausuren das Avatamsaka-Sutra mit seinen über tausend Seiten von vorne bis hinten gelesen, auf Empfehlung meines englischen Dharmalehrers Rigdzin Shikpo. Mein Verstand hat irgendwann kapituliert. Einfach immer nur Millionen und Billionen Bilder und Welten und das überall und in jeder Pore.
Sinn und Zweck dieser Texte ist es, auf der symbolischen Ebene zu uns zu sprechen. Irgendwann kapieren wir mit dem Herzen, dass diese Welt nicht so ist, wie wir sie sehen. Das geschieht auch durch Gedichte und durch absurde Gelübde, wie die Bodhisattva-Gelübde im Zen. Da heißt es:
Der Wesen sind unendlich viele – ich gelobe, sie alle zu retten.
Die Leidenschaften sind unerschöpflich – ich gelobe, sie alle zu überwinden.
Der Tore der Wahrheit sind unzählbar viele – ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Der Weg des Buddha ist unendlich – ich gelobe, ihn bis zum Ende zu gehen.“
Für den Verstand ist das einfach nur absurd. Erst sage ich: „Der Wesen sind unendlich viele.“ und dann: „Ich gelobe, sie alle zu retten“. Oder: „Die Leidenschaften sind unerschöpflich – ich gelobe, sie alle zu überwinden.“ Der Verstand sagt da: „Entweder sie sind unerschöpflich, oder ich kann sie alle überwinden. Beides geht nicht.“ Oder: „Der Tore der Wahrheit sind unzählbar viele – ich gelobe, sie alle zu durchschreiten. Der Weg des Buddha ist unendlich – ich gelobe, ihn bis zum Ende zu gehen.“
Das sind paradoxe Formulierungen, die unseren Verstand in die Enge treiben. Wenn wir das mit Hingabe immer wieder rezitieren, dann klickt es – manchmal. Leider ist der Einsichtsprozess nicht manipulierbar, er ist nicht zu kontrollieren. Man kann das man nicht „machen“, und doch bereitet uns das Lesen solcher Texte auf die Einsicht vor.
Diese Texte stimmen uns auf den dritten Zugang zur Leerheit ein, den devotionalen. Stephen Bachelor betont in seiner Einführung zu einem Kommentar des Herzsutra von Geshe Rabten (Echoes of Voidness. Boston: Wisdom Publications), dass das Herzsutra in erster Linie ein devotionaler Text ist. Das Herzsutra ist nicht in erster Linie dafür gedacht, dass es gelehrt wird – natürlich kann man darüber lehren – sondern man soll es immer wieder rezitieren, singen, halblaut sprechen. Ich tue das seit 1988. Ich rezitiere es auf sino-japanisch und auf Deutsch, und stelle fest, dass dieses rhythmische Rezitieren im Zenstil irgendwann so ans Herz klopft, dass man etwas versteht. Plötzlich kommt eine Zeile an, und ich weiß: „Das ist ja wahr!“. „Befreit von allen Vorstellungen leben die Bodhisattvas im Jetzt.“ Wenn man einen Satz Hunderte von Malen rezitiert, klickt plötzlich etwas, und man versteht.
Paradoxe Logik: Weder Weltflucht noch Weltsucht
Was versteht man da? Welche Schicht in uns versteht da was? In der westlichen Philosophie nennt man die Logik des Herzsutra paradoxe Logik, paradoxe Weisheit. Wir kennen die normale, zweiwertige Logik „A ist A und B ist B“, also entweder ist A A, dann ist es nicht B. Das ist doch logisch. Entweder ich nehme eine Kaffeetasse oder eine Teetasse oder ein Glas. Ein Glas ist eindeutig keine Teetasse. Das ist doch logisch. Wer behauptet, dass eine Tasse ein Glas sei, hat ein kleines Problem in der Welt. Eine Frau ist kein Mann, ein Mann ist keine Frau. Das ist doch logisch. Man muss doch ein bisschen Ordnung schaffen in dieser Welt. Es gehört entweder in diese Schublade oder in jene. Entweder ist es Buddhismus oder Hinduismus, es kann nicht beides gleichzeitig sein. Entweder ist man Christ oder Buddhist. Man muss sich schon für eine Zuflucht entscheiden. Entweder nimmt man Zuflucht zu Buddha, Dharma, Sangha oder man hängt noch an der Kirche und am lieben Gott, aber beides geht nicht. Der Verstand ist sich da sehr klar: Entweder – oder, beides geht nicht.
Das funktioniert auf der relativen Ebene und hat da auch seine Berechtigung. Wenn es darum geht, den Tisch zu decken, ist es günstig, wenn man Teetassen und Wassergläser unterscheiden kann, und Kindern bringt man das bei. Wenn man jetzt aber versucht, das ganze Leben mit dieser zweiwertigen Logik zu erklären, endet man entweder als Buchhalter oder – wie der Philosoph Karl Jaspers über Hegel sagt – als „Einsarger“, dann „sargt man das Leben ein“. Man ordnet es wunderbar und hat ganz viele Schubladen, aber alles ist tot. Wenn man mit dieser zweiwertigen Logik an „Form ist Leere und Leere ist Form“ herangeht, sagt man: „Entweder ist die Welt wirklich oder unwirklich. Wenn sie wirklich ist, dann gilt: A ist A und B ist B. Dann ist die Welt das Wichtigste. Oder: Die Welt ist leer. Dann ist alles Schein! Mit dieser Haltung gibt es interessante Diskussionen: „Also, ich finde, ich muss die Küche nicht aufräumen, das ist ja bloß die relative Ebene, und sauber und dreckig ist doch dualistisches Denken. Die Unterscheidung zwischen bezahlten und unbezahlten Rechnungen ist doch dualistisch, das wollen wir doch überwinden. Geschmackvoll und nicht geschmackvoll, das ist doch bloß Wertung, das überwinden wir jetzt. Ich hab keine Zeit, die Küche aufzuräumen, ich hab Wichtigeres zu tun, ich muss nämlich über Leerheit meditieren.“
Solange man ausschließlich mit der zweiwertigen Logik arbeitet, mit entweder – oder, verliert man sich in der Welt der Dinge: „Ich muss wirklich Rechnungen schreiben (oder bezahlen, je nachdem), ich kann leider nicht meditieren. Außerdem habe ich drei Kinder und einen Job. Ich habe wirklich objektiv keine Zeit! Ich muss nämlich eins, zwei, drei, vier …. tausend Dinge tun.“ Wir haben alle unsere fünfundzwanzig Listen oder eben keine Listen, je nach Mentalität. Wir haben alle unsere Vorstellungen, was man alles wie erledigen müsste.
Das andere Extrem klingt etwas anders. Man hat eine vage Ahnung von Leerheit und sagt: „Ach, komm, es ist doch alles egal! Aufgeräumt oder nicht aufgeräumt, bezahlt oder nicht bezahlt, das ist kein Problem! Mir geht es ums Wesentliche, ich meditiere jetzt, ich bin auf dem Weg. Diese Kinkerlitzchen sind nicht mehr wichtig!“ Wenn man nur logisch argumentiert, wenn man „Form ist Leere und Leere ist Form“ nicht wirklich ganz tief versteht, wenn man nur logisch herangeht, landet man entweder beim Materialismus oder beim Idealismus. Es geht entweder um die Welt, um die Dinge, und dann müssen wir jetzt was tun. Dann sitzen wir nicht nur auf dem Meditationskissen und denken vor uns hin, sondern wir tun etwas Sinnvolles und verbessern die Welt. Oder man geht in die Transzendenz, da ist alles gut, und Gut und Böse gibt es nicht! Krieg? Nein, auf der tiefsten Ebene gibt es keinen Palästinakonflikt, wirklich nicht! Der ist leer von Selbstexistent, auf ganz tiefer Ebene, so tief, dass man nicht mal mehr hinkommt. Mit der zweiwertigen Logik fällt man von einem Extrem ins andere, und das machen auch die meisten Leute. Wenn sie ihren politischen Tag haben, wollen sie aktiv werden und die Welt verändern, und dann versinken sie wieder in ihren Meditationsgeschichten. Der spirituelle Weg ist ja so kompliziert und so komplex, vor allem bei den Tibetern, da hat man so viel zu tun, dass man vergisst, wann Cousine Martha Geburtstag hat und dass die Oma keine Gladiolen mag, denn das ist ja alles nur relativ.
Begriffe sind sehr entlarvend. Es geht bloß um die „relative“ Wahrheit, und dann sagt man schnell: „Es geht bloß um das Weltliche“. Das machen alle, die Partei für eine Seite ergreifen. Materialisten behaupten: „Liebe, das ist bloß ein bisschen Biochemie. Religion ist Projektion und Opium fürs Volk. Beide Triebe, der spirituelle und der sexuelle, sind bloß Biochemie, was soll’s also. Man reduziert das, was man nicht versteht, auf das, was man kennt. Das ist ja alles bloß Psychologie, bloß symbolisch, das gibt es ja gar nicht wirklich! Das ist ja bloß eine Projektion, Du siehst das falsch, das sind bloß deine Projektionen! Ich habe keine Probleme mit Dir, ist alles bloß Projektion. Steht man auf der anderen Seite, sagt man: „Die Welt ist eben bloß Schein. Maya. Lila, die Welt ist ein Traum Gottes, man braucht sich keine Sorgen zu machen, ist alles nur Schein.“
Die Weisheit des Herzens
Paradoxe Weisheit kann der Verstand nicht verstehen, und das Wunderbare am Verstand ist, dass er seine Grenzen erkennen kann. Wenn man ein bisschen nachdenkt, kann man „mit dem Verstand“ verstehen, dass man bestimmte Dinge nicht verstehen kann. Das finde ich ziemlich gut am Verstand. Aber man sollte sich dann auch daran halten und weiter gehen. In der Philosophie spricht man von der Fähigkeit, Paradoxa zu verstehen. Im Buddhismus nennt man es Weisheit. Wenn der Buddha sagt: „Die Welt ist, und sie ist nicht“, dann ist das paradoxe Weisheit, Herzensweisheit. Es geht um das „Sowohl-als-auch“. Der Kulturphilosoph Jean Gebser nennt das polares oder mythisches Bewusstsein. Das mentale Bewusstsein kann ordnen, trennen, unterscheiden, das ist sehr wertvoll. Ich möchte sehr darum bitten, den Verstand zu respektieren, ich schätze ihn sehr, aber er kann eben nicht alles. Wenn der Verstand sich zum Herrn macht, geht die Welt „den Bach runter“, so wie sie im Moment den Bach runtergeht. Dann versucht man mit großen Plänen zu retten, was so nicht zu retten ist. Die Weisheit des Herzens versteht das „Sowohl-als-auch“. Jeder Mensch, der liebt oder geliebt hat, kann problemlos Widersprüche zusammenbringen. Widersprüche sind kein Problem, wenn man mit dem Herzen versteht! Dann kann man Verständnis haben und beides fassen.
Wie kann man die Weisheit des Herzens wecken? Durch Singen, durch Rezitieren, durch Rituale, durch Gebete, durch Symbole. Symbole sprechen zum Herzen. Wenn der Verstand versucht, Symbole zu erklären, muss man aufpassen, den Symbole bedeuten eben nicht „bloß“ dies oder das. Symbole muss man wirken lassen. Ein bisschen kann man mit dem Verstand schon in die Richtung deuten. Man kann mit dem berühmten Finger auf den Mond zeigen. Aber man muss sich den Mond auch anschauen.
Am Anfang sind Berge Berge und Flüsse Flüsse.
Dann sind Berge keine Berge mehr und Flüsse keine Flüsse.
Und am Ende sind Berge wieder Berge und Flüsse Flüsse.
Jetzt möchte ich einen berühmten Zenspruch zitieren. Ein Versuch, mit Worten auf das Unsagbare hinzuweisen. „Am Anfang sind Berge Berge und Flüsse Flüsse“, heißt es im Zen. Das ist die gewöhnlich materialistische Sicht. Dann wendet man das Heilmittel der Leerheit an. „Dann sind Berge keine Berge mehr und Flüsse keine Flüsse“. Man sitzt da und versteht überhaupt nichts mehr. Man lebt in diesem Staunen, man ist berührt von diesem Unfassbaren des Berges, des Flusses, der Liebe, der Meditation, des Hörens. Wenn man das verdaut und nicht wegrationalisiert hat, dann kann der nächste Schritt geschehen. Man kann die Erfahrung des Staunens natürlich auch leugnen oder weginterpretieren: „Ich hab ein bisschen gesponnen. Dieses Erlebnis das war nicht wirklich. Das war bloß eine Meditationserfahrung. Ich habe mir da etwas ausgedacht, und jetzt ist alles wieder normal, wie vorher.“ Das kann man natürlich auch machen. Dann heißt es wieder: „Berg ist Berg und Fluss ist Fluss“,
Wenn man die Erfahrung des Unfassbaren, des ganz tiefen existentiellen Staunens auf sich wirken lässt, sie zulässt, dann geschieht ein „Paradigmenwechsel“. Dann geschieht etwas. „Dann sind Berge wieder Berge und Flüsse wieder Flüsse“, aber jetzt sehen wir sie mit unendlichem Respekt, mit ganz viel Liebe, mit ganz viel Wertschätzung. Das ist eine Art, wie man das mit Worten beschreiben kann. Vier Worte werden verwendet –
Berg, Fluss, ist, nicht – und unterschiedlich kombiniert. Dabei verstehen wir etwas. Bei mir hat dieser Spruch sehr viel ausgelöst, und er tut es immer wieder.
Das Koan vom Stock
Jetzt möchte ich über ein Koan sprechen, über mein derzeitiges Lieblings-Koan, das Koan vom Stock:
Der Meister – in unserem Fall ist es eine Lehrerin – sitzt vor den ZuhörerInnen und fragt: „Was ist das? Wenn Du es einen Stock nennst, kriegst Du dreißig Hiebe. Wenn Du es sagst, es ist kein Stock, kriegst Du auch dreißig Hiebe. Was machst Du?“
Eine Lösung ist: Man benutzt den Stock und demonstriert damit: Der Stock funktioniert als Stock, also ist es ein Stock. Wenn Du sagst. „Das ist ein Stock.“, ist das eine materialistische Haltung, bei der man denkt: „Das ist ein Stock, das war immer ein Stock und wird auch immer ein Stock sein. Das ist überhaupt der Stock an sich, und die Stockheit war – wie Platon sagt – schon vor dem Stock da. Das ist der Stock an sich.“ Wenn du also sagst: „Das ist ein Stock.“, bekommst du dreißig Stockhiebe, denn der Stock ist nicht immer ein Stock. Die Vergänglichkeit schlägt dich, wenn der Stock auf deinem Rücken zerbricht! Sie schlägt dir auf die Finger.
Wenn du schlau sein willst und sagst: „Das ist kein Stock, das ist bloß ein Gedanke, ein Konzept. Der Stock existiert nicht wirklich, er nur Maya, eine Illusion, eine relative Wahrheit.“, dann hast du vom „Gift der Leerheit“ gegessen. Du bist krank und nicht in der Lage, den Gong zu betätigen, weil du denkst: „Das ist ja gar kein Stock!“ Wenn ich sage: „Das ist ein Stock!“, klebe ich an der Form. Wenn ich sage: „Das ist kein Stock!“, klebe ich an Leerheit. Wenn ich ihn benutze, bin ich aus dem Schneider.
Man kann das nun ganz abstrakt und schön distanziert über den Stock des Zen nachdenken und die paradoxe Realität des Stockes entdecken. Das geschieht in Zen-Sesshins, und man meditiert gezielt über das Koan vom Stock. Man kann das aber auch auf sein eigenes Leben beziehen: „Ich habe zur Zeit ein Problem in meiner Beziehung, so ein richtiges echtes Problem.“ Wenn man das denkt, bekommt man viele Schläge, bestimmt mehr als nur dreißig, weil man so sehr an diesem Problem klebt. Wir sind festgefahren. Es gibt überhaupt keinen Ausweg. Es ist einfach so ein großes Problem. Ich weiß nicht was ich machen soll. Wenn man so denkt, bekommt man viele Schläge vom Schicksal, weil man so an diesem Problem klebt.
Wenn man stattdessen sagt: „Ich und Probleme? Was ist das? Ich meditiere doch schließlich! Ich habe keine Problem. Alles ist leer, es gibt kein Gut und kein Böse, und niemand ist verletzt. Verletzungen gibt es auch nicht. Sie sind alle leer von Selbstexistenz. Ich habe keine Problem. Hast Du ein Problem? Pech für dich, aber dich gibt es zum Glück auch nicht!“ Solche Sätze habe ich gehört. Es sind alles Zitate von aufrichtig übenden, ernsthaften Buddhisten.
Sagt man: „Es gibt kein Problem bei uns, denn wir streiten nie! Gut, manchmal wird die Stimme ein bisschen lauter, aber das ist kein Problem. Das ist einfach so.“ Denkt man das, bekommt man viele Hiebe vom Schicksal, weil man blind in Schwierigkeiten hinein läuft. Absprachen gelingen nicht, weil man Probleme nicht zur Kenntnis nimmt. Wie könnte eine Lösung aussehen, wo man nicht an Problemen klebt und sie auch nicht leugnet oder übersieht? Zunächst muss man lernen genauer hinzuschauen. Ohne regelmäßige Meditation gelingt das nur wenigen Menschen. Wenn man dann Unstimmigkeiten oder Missverständnisse, unterschiedliche Standpunkte oder Erfahrungen entdeckt, kann man sich in Ruhe hinsetzen und miteinander reden. Manchmal ist es leichter, etwas miteinander auszuprobieren, um mehr Klarheit zu gewinnen. Man redet dann nicht nur, sondern tut etwas, um das Problem zu klären, aufzulösen, die Bedingungen zu verändern!
Dazu kann man die Lehren vom bedingten Entstehen heranziehen und fragen: „Hat es dieses Problem schon immer gegeben?“ „Nein, vor zwanzig Jahren gab es das Problem noch nicht. Vielleicht auch nicht vor zehn Jahren, und vor fünf Wochen auch nicht.“ „Was ist dann geschehen?“ „Ja, dann ist das passiert und das und das…“ Dazu gibt es die hübsche Geschichte des kleinen Mönchs in Lhasa. Der kleine Mönche in Lhasa besucht den Potala-Palast, diesen großen Palast, wo der Dalai Lama früher residierte. Da entdeckt er ein kleines Fenster, von dem aus er auf den Marktplatz hinausschauen will. Er zwängt seinen Kopf durch die kleine Fensteröffnung und schaut hinaus. Plötzlich ruft er um Hilfe: „Mein Kopf steckt fest, ich komme nicht mehr heraus!“ Ein großer Mönch kommt und fragt: „Was ist denn los?“ „Mein Kopf steckt fest, ich komme nicht mehr heraus!“ „Ja, wie bist Du denn hinein gekommen?“ „Also so!“, und der kleine Mönch zieht den Kopf schnell und geschickt aus der Fensteröffnung..
So wie man in ein Problem hinein gerät, kommt man häufig auch wieder heraus. Das gelingt nicht immer, aber man kann es versuchen. Man auf diese Weise das bedingte Entstehen zur Kenntnis nehmen. Man überlegt: „Was hat dazu beigetragen, dass sich die Situation so und so verändert hat?“ Dann kann man versuchen, praktische Wege aus der schwierigen Situation heraus zu finden. Man kann das Koan vom Stock für die Lösung von Problemen heranziehen. Sagst du: „Das ist ein Problem, ein aus sich heraus existierendes Problem, das sich nie verändert, immer so war und immer so sein wird.“, bekommst du Schläge, und zwar mindestens dreißig. Sagst du: „Ich habe kein Problem. Das ist kein Problem.“, dann bekommst du auch Schläge.
Was ist die Lösung? Augen aufmachen, hingucken, hinspüren – bedingtes Entstehen zur Kenntnis nehmen und Ärmel aufkrempeln und das Beste aus der Situation machen.
Ich kann dieses Koan sehr empfehlen, wann immer Sie sich in einer Situation festgefahren fühlen. Wir stecken oft fest. Ich habe zur Zeit Probleme mit meiner Stimme. Wenn ich jetzt denke: „Oh das ist schwierig, da weiß ich nicht, was ich jetzt machen soll. Ich habe eine Stimmbandentzündung, das ist wirklich ein Problem.“ Meist rechnen wir das Problem dann hoch auf immer und denken: „Das wird nie besser, das wird jetzt immer schlimmer.“ Wenn ein „echtes“ Problem hat, dann deshalb, weil man das Problem „auf ewig“ hochrechnet. Dabei vergisst man, dass es jemals anders war und erlaubt gedanklich nicht, dass es sich je verändern könnte. Mit der Haltung „hat“ man ein Problem. Wenn man aber sagt: „Ich und Stimmbandentzündung. Das wäre ja gelacht. Das ist gar kein Problem!“, dann hat man ein Problem. Wenn ich nichts tue, wenn ich kein Stimmtraining mache und nicht ein bisschen weniger rede und meine Stimme schone, wird die Entzündung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem „echten“ Problem.
Was hilft, ist: Nicht jammern, nicht zusammenzubrechen, das Problem nicht auf ewig hochzurechnen. Auch nicht ignorieren und wegleugnen, sondern die Bedingungen so genau wie möglich anschauen. Dann kann man das verändern, was man verändern kann, das annehmen, was man nicht verändern kann, und durch Meditation und Schulung die Weisheit entwickeln, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Drei Übungen
Leerheit und bedingtes Entstehen
Wir sitzen aufrecht und stabil, das fördert Wachheit und Vertrauen.
Wir sitzen entspannt, denn die tiefe Weisheit, die Leerheit versteht, kann sich nur entfalten, wenn Körper und Geist völlig entspannt und völlig wach sind. Für einige Momente lassen wir die Gedanken frei schweifen, ohne uns etwas vorzunehmen.
Dann richten wir die Aufmerksamkeit auf den ganz natürlichen Atemrhythmus. Beim Ausatmen spüren wir den Raum, beim Einatmen vertrauen wir auf unsere Fähigkeit, beide Ebenen der Wirklichkeit zu erleben, sie tief zu verstehen, sie mit dem Herzen zu erfassen. Wir spüren Raum beim Ausatmen und Vertrauen beim Einatmen.
Nun nehmen wir die Anregung des Koans vom Stock auf und denken an ein kleineres Problem, das uns zur Zeit beschäftigt. Es empfiehlt sich, mit einem kleineren Problem anzufangen und nicht mit dem größten, das uns im Augenblick plagt.
Vielleicht gab es einen kleinen Zusammenstoß mit einer Kollegin. Vielleicht stecken Tochter oder Sohn in der Pubertät, und es gab gestern einen Wortwechsel, der noch nachklingt. Denken Sie an ein kleineres oder mittleres Problem, das Sie zur Zeit bewegt. Wir erinnern eine Situation aus den letzten Tagen mit so vielen Einzelheiten, wie wir brauchen, damit wir „das Problem“ deutlich spüren.
Jetzt wenden wir das Koan vom Stock auf diese Situation an und sagen im ersten Schritt innerlich einige Male: „Das ist ein Problem!“ Achten Sie darauf, welche Bilder dazu aufsteigen, wenn Sie sagen: „Das ist ein Problem!“ Dann sagen wir für einige Male innerlich: „Das ist überhaupt kein Problem!“ Wir wiederholen das einige Male und registrieren dabei, welche Bilder, Gefühle, Gedanken aufsteigen.
Im dritten Schritt „benutzen“ wir den Stock, d.h. wir schauen uns einige der Bedingungen an, die bei diesem Problem mitwirken. Wir spielen ein bisschen damit und versuchen, im Freiraum dieser Übung, die Bedingungen, die vielen Faktoren, die das Problem mit bestimmen, etwas durcheinander zu wirbeln. Dann ändern wir gedanklich den einen oder anderen Faktor und achten auf die Bilder, Gedanken und Gefühle, die dabei entstehen.
Wir lassen uns berühren von der paradoxen Weisheit, die Wirklichkeit in allen Facetten versteht, die Erscheinungen, die Formen, und die Leerheit, die Offenheit, aus der heraus die Formen entstehen. Wir spüren öffnen und für den offenen Raum der Wirklichkeit, der unfassbar und unsagbar ist, nicht greifbar mit dem Verstand, und das Spiel der Erscheinungen, der Sinnesempfindungen, der Sinneswahrnehmungen, die ganze äußere Welt, die aus diesem offenen Raum der Wirklichkeit entsteht, Gefühle weckt und Gedanken und das Verhalten mit Körper und Rede.
Wenn Du sagst: „Das ist ein Problem“, bekommst du dreißig Hiebe.
Wenn Du sagst: „Das ist kein Problem“, bekommst du ebenfalls dreißig Hiebe. Was machst Du?
Zum Abschluss bringen wir die Übung auf den Punkt und widmen die Erfahrungen dem Wohl aller Wesen.
Großer Zweifel
Denken Sie an einen Zweifel, den es zur Zeit gibt oder in den letzten ein, zwei, drei Jahren gab. Gibt es eine großen Zweifel im Leben? Gibt es große Fragen, die nicht nur Alltagsdinge betreffen, sondern so tief gehen, dass sie uns aus unserem eingefahrenen Trott aufwecken? Für uns Menschen im Westen ist vielleicht die vertrauteste Frage: „Was ist der Sinn meines Lebens? Warum stehe ich morgens auf? Warum tue ich all das, was ich tue: arbeiten gehen, Menschen treffen, lesen, im Garten arbeiten? Warum lebe ich?“ Wenn es zur Zeit diese Frage gibt, spüren wir sie. Wenn es sie vor einigen Jahren gab, gehen wir etwas in der Zeit zurück und spüren der einen oder anderen großen Frage in uns nach.
Können wir uns erinnern, wann wir uns zum ersten Mal in unserem Leben in der Weise gefragt haben? Wann hat uns diese Frage zum ersten Mal erschüttert hat, bewegt, aufgerüttelt, vielleicht auch inspiriert? Wann war das? Wie lautete die Frage damals für genau? Wie haben wir sie damals formuliert? Was hat dieses Fragen damals in Bewegung gesetzt? Welche Auswirkungen hatte sie auf unser Leben? Wie sieht das heute aus – gibt es heute eine große Frage im Leben?
Wir können uns auch ganz schlicht fragen: „Warum stehe ich morgens auf? Was bringt mach dazu, das Bett zu verlassen?“ Freuen wir uns auf den Tag, auf das Leben, auf Begegnungen, auf die Arbeit, das Tätigsein? Treibt uns Langeweile aus dem Bett? Stehen wir auf, weil wir nicht weiter schlafen können oder der Rücken tut weh? Ist es Gewohnheit: Man steht eben morgens auf?
Eine weitere klassische Übung, dem Sinn des eigenen Lebens näher zu kommen, ihn mehr zu spüren, ist die Frage nach dem Tod, und eine Möglichkeit wäre: Wenn ich wüsste, dass ich in zehn Jahren sterben muss, was würde ich bis dahin noch sehen, erleben, tun, lassen wollen? Was würde ich ändern, wenn ich wüsste: In zehn Jahren ist Schluss mit meinem Leben? Dann lassen wir den Zeitpunkt näher rücken, so wie wir es hilfreich finden – acht, fünf, drei, zwei Jahre, Monate, Wochen – so nahe wir das möchten. Dann schauen wir, was das bewirkt, welche Bilder aufsteigen, welche Gedanken. Wir nehmen sie zur Kenntnis. Wir fragen uns immer wieder: „Was würde ich ändern in meinem Leben, wenn ich wüsste, dann und dann muss ich sterben? Was will ich bis dahin noch sehen, verstehen, erleben, tun oder lassen, bis ich sterbe? Was ist mir wirklich wichtig? Was liegt mir am Herzen, angesichts meiner Sterblichkeit, meines sicheren Todes irgendwann?“ Das Nachdenken über unseren Tod soll uns helfen herauszufinden, was uns wirklich wichtig ist.
Zum Abschluss fassen wir die Übung zusammen und bringen sie auf den Punkt mit der Frage: „Was ist mir in dieser Übung deutlich oder klarer geworden?“ Wir lauschen nach innen, schauen nach innen, was für Worte da kommen, was für Bilder. Das lassen wir noch einmal auf uns wirken, damit der Eindruck tief wird.
Dann geben wir unserer Erfahrung eine Richtung, wir „widmen“ diese Energie „dem Wohl aller Wesen“, wir teilen sie mit anderen. Das fällt uns leichter, wenn wir uns fragen: „Wie soll sich die Übung auswirken auf mich, auf mein Leben, auf die Menschen, mit denen ich zusammen lebe? Was wünsche ich mir an Auswirkung?“ Das formulieren wir in eigenen Worten.
Mögen wir alle herausfinden, was uns wirklich am Herzen liegt, und dem Raum geben. Mögen wir auch andere auf ihrem Weg inspirieren und sie dabei unterstützen, das herauszufinden, was für sie wichtig ist.
Mögen alle Wesen glücklich sein.
Verbundenheit, Hingabe, Grenzen
Im ersten Schritt können wir eine kleine Begebenheit von heute, gestern, aus den letzten Tagen erinnern, wo wir uns verbunden gefühlt haben und lebendig. Vielleicht fühlten wir uns nur für einen ganz kurzen Moment verbunden mit der Natur, mit einer Person, mit mehreren Menschen. Wir erinnern so viele Einzelheiten, wie wir jetzt brauchen, damit das Gefühl von Wohlbefinden und Verbundenheit spürbar wird.
Dann schauen wir uns diesen Moment noch einmal genauer an, was da mitgewirkt hat: Waren wir draußen, in der Natur, oder drinnen? Waren wir alleine oder mit anderen zusammen? Waren wir still und ruhig, oder haben wir uns bewegt? War es eine vertraute Situation oder etwas, was ungewohnt ist? Welche Sinne waren besonders beteiligt? Was stand im Vordergrund: Sinneswahrnehmungen, wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken? War es stärker ein Gefühl von Verbindung mit Menschen, einem Ort? War es eher ein Gefühl von Präsenz, Gegenwärtigkeit, Dasein? Oder war es eher ein Moment des atemlosen Staunens? Ein Moment der Einsicht, des Verstehens?
Haben Sie in dem Moment an Ihr Alter gedacht, an Ihre Wohnung, Ihre Arbeit? An die Menschen, mit denen Sie leben? Wie war das fünf Minuten später? War da noch ein Rest von Freude, Verbundenheit, Präsenz, von Wachheit spürbar?
Dann können wir ein zweite Begebenheit, vielleicht von heute Nachmittag erinnern, so viele Einzelheiten, wie wir jetzt brauchen, um jetzt das Wohlbefinden ein wenig zu spüren. Wie wichtig war in dem Moment unser Alter, der Zustand unseres Bankkontos, berufliche Aussichten?
Man kann eine dritte Begebenheit erinnern, vielleicht von gestern, auch wenn sie nur einen Moment, eine Minute gedauert hat. Was war Auslöser für diese Situation, diesen Moment des Wohlbefindens? Was stand im Vordergrund bei diesem Wohlbefinden? Die Unmittelbarkeit des Erlebens? Klarheit, Einsicht? Staunen?
Jede Erfahrung ist unfassbar und doch klar. Etwas geschieht, und wir können uns orientieren, wissen oder nicht wissen, worum es gerade geht. In jedem Augenblick ist Leben da, Präsenz, Lebendigkeit, Unmittelbarkeit. Jede Erfahrung ist unmittelbar nah, näher als das eigene Herz.
Jetzt fassen wir diese Übung zusammen und bringen sie auf den Punkt mit der Frage: „Was ist mir jetzt deutlich geworden?“ Vielleicht gibt es ein Bild, einen Satz, ein Schlüsselwort, etwas, was unser Verstehen auf den Punkt bringt. Das lassen wir noch einmal auf uns wirken, damit der Eindruck tief wird.
Dann geben wir unserer Erfahrung eine Richtung, widmen unsere Energie und können uns anregen lassen von der Frage: „Wie soll sich diese Übung auf mein Leben auswirken?“ Wir können das in eigenen Worten formulieren.
Mögen wir alle aus Momenten des Wohlbefindens, der Freude, der Verbundenheit lernen, dass das zu unseren Grundfähigkeiten gehört, Ausdruck ist von Offenheit, Klarheit, Feinfühligkeit unseres Geistes, mögen wir das Vertrauen auf diese uns innewohnende Fähigkeit zur Verbundenheit durch diese Erfahrung stärken und auch in anderen stärken und so mehr und mehr in der Lage sein, in jeder Begegnung das Beste in uns und anderen zu fördern. Mögen alle Wesen glücklich sein.
Dieser Vortrag von Sylvia Wetzel fand am 21. April 2002 im buddhistischen Zentrum Choeling in der Vietnamesischen Pagode in Hannover statt. Die Tonbandabschrift hat Annemarie Becker im Oktober 2004 gemacht. Die Endfassung von Sylvia Wetzel überarbeitetet ist am 8. März 2005 publiziert worden.