Pilgerinnenreise nach Indien

Auf Buddhas Spuren durch Nordindien. Reisenotizen von Sylvia Wetzel

Dieser Beitrag ist veröffentlicht in: Publikforum Extra. Der Weg hat ein Ziel. Pilgerorte der Weltreligionen. Mai 2005. Mit Beiträgen über: Jakobsweg, Irland, Arizona, Jerusalem, Allahabad, Brasilien, Kaliasch, Bayern. www.publik-forum.de

Der Reliquienschrein des Buddha

Er sieht dich an, du musst dein Leben ändern. Rilke

Februar 1987: Mit zwei Bussen fahren siebzig Frauen von Bodhgaya nach Kushinara, dem Ort wo die Reliquien des Buddha in einer großen Stupa ruhen. Nach der Ersten Internationalen Konferenz über buddhistische Nonnen im Februar 1987 in Bodhgaya begeben sich rund dreißig tibetische Nonnen, Laienfrauen aus Sri Lanka, Nonnen und Laienfrauen aus Europa und den USA, Priesterinnen aus Japan, Quasi-Nonnen aus Thailand und Burma auf die Reise zu den acht klassischen Pilgerorten. Wir kommen von Kapilavastu und steigen nach acht Stunden Ruckelfahrt in Kusinara aus dem Bus. Wir machen uns kurz frisch in unseren Räumen im Gästehaus und wollen noch in der Abenddämmerung der Stupa einen Besuch abstatten. Wir genießen die Bewegung nach vielen Stunden im Bus und setzen die ungemein spannenden Gespräche fort, die auf Reisen mit fremden Menschen so leicht entstehen. Wir nähern uns dem etwa drei Meter hohen halbkugelförmigen Nibbana-Stupa (oder Nirvana-Stupa) aus einfachen rötlichen Lehmziegeln, in dem die sterblichen Überreste des historischen Buddha Siddhartha Gautama verbrannt und aufbewahrt wurden. Die ersten Frauen sind an der Stupa angelangt und umrunden sie im Uhrzeigersinn. Es wird immer weniger gesprochen.

Die erste Nonne setzt sich auf den breiten Grasstreifen, der die Stupa umgibt. Die Würde des Ortes erfasst mich. Ich setze mich auf den Boden, schließe die Augen und denke an den Tag, als der Buddha starb. Vor zweieinhalbtausend Jahren war der Buddha, im Alter von etwa achtzig Jahren mit seinen Mönchen durch dieses Dorf gekommen. Er hatte die Regenzeit schwer krank in der Nähe verbracht und war auf Weg ins Jetanvana-Kloster. Am Morgen hatte der Schmied Cunda den Buddha und seine Anhänger bewirtet. Der Buddha konnte das Essen nicht vertragen und erkrankte. In Kusinara bereitete ihm Ananda ein Lager unter Sala-Bäumen. Dort starb er zwei Tage später. Eine Woche später wurde sein Leichnam an dieser Stelle eingeäschert und bald darauf eine Stupa erbaut. Ich sah den greisen Buddha, hörte seine letzten Ratschläge an die Sangha: „Alles ist unbeständig. Bemüht euch ohne Unterlaß.“ Ich spürte den Schmerz seiner Schüler, die ihren unvergleichlichen Lehrer verloren und ihre Freude, die Worte der Lehren aus seinem Munde gehört zu haben. Sein Sterben war die letzte Lektion in Unbeständigkeit. Auch Buddhas sterben. Für Augenblicke wusste ich es miot allen Fasern meines Leibes, mit Herz und Verstand: Auch ich bin sterblich. Ich weiß wirklich nicht, was als nächstes kommt, der nächste Atemzug oder der Tod. Und eine tiefe Wertschätzung des Lebens erfüllte mich. Wenn ich meine Sterblichkeit und die aller Menschen, die ich kenne, tief verstehe und annehme, spüre ich gleichzeitig, wie kostbar alles ist, wie einmalig und unvergleichlich. Als ich die Augen wieder öffnete sah ich alle Frauen auf der Erde sitzen. Die Kraft des heiligen Ortes hatte alle in Bann gezogen.

Auf dem Weg zum Gästehaus blieben wir still. Erst am nächsten Morgen, beim gemeinsamen Frühstück sprachen wir über das, was uns da geschehen war. Was ist da geschehen? Was war wirklich geschehen? Für mich waren Kusinara, der Sterbeort des Buddha, und Bodhgaya, der Ort seines Erwachens, die eindrücklichsten Orte auf dieser Pilgerreise gewesen. Die Ausstrahlung des Ortes ist wirklich, denn sie wirkt. Was wirkt da? Einfach gesagt sind Heilige Orte geeignete „Aufhänger“ für besondere Erfahrungen. Vielleicht bringt die Achtung, die das Gehen auf heiliger Erde in uns weckt, das ständige innere Geschwätz zum Schweigen, und dann werden wir erfasst von etwas, was größer ist als wir. Die Religionswissenschaften sprechen an dieser Stelle vom Numinosen, das uns anrührt. Das Heilige, sagt Rudolph Otto, ist numinos, und er sagt damit, dass es unfassbar ist. Es wirkt, wenn es fascinosum und trememdum bleibt, etwas, das uns anzieht und erschüttert. Es gibt unterschiedliche Erklärungen für das Phänomen der Ergriffenheit an besonderen Orten. C.G. erklärt Faszination als die Wirkung von etwas, was uns gleichzeitig anzieht und erschreckt. Psychologisch ausgedrückt wird in solchen Augenblicken das Unbewusste aktiviert, und das erschüttert das Bewusstsein. Damit ein Numinoses wirken kann, braucht es das Eingeständnis, dass wir nicht alles mit unserem Verstand, mit unserem Bewusstsein erfassen können. Die Einsicht in die Grenzen des Verstandes gilt in Ost und West als Anfang der Weisheit. Die Wirkung des Numinosen können wir allerdings erleben, und das ist dann wirklich, weil es auf uns wirkt.

Der Mann Buddha und die Grüne Tara

Februar 1997: In der milden Nachmittagssonne sitzen wir in Bodhgaya sieben Meter neben dem Baum, unter dem der Buddha vor zweieinhalbtausend Jahren erwachte. Der Bodhi-Baum (lat. ficus religiosa), der jetzt an diesem Ort steht, ist ein Ableger eines Bodhi-Baums aus Sri Lanka, und der dortige Baum gilt als echter Ableger des originalen Bodhibaumes in Bodhgaya. So weiß es die immer wieder erzählte Legende. Wir, das sind 21 Frauen aus Deutschland und der Schweiz, sitzen im Kreis und singen das Mantra der Grünen Tara und ihren Lobpreis in 21 Versen. Die Grüne Tara wird seit dem 4.Jh. u.Z. in Indien und seit dem 11.Jh. in Tibet verehrt. Sie ist eine weibliche Erwachte, nach einer Legende die erste Frau, die das Geschlechterproblem im Buddhismus sehr elegant und sehr einfach ein für alle Mal gelöst hat. Als Prinzessin mit dem poetischen Namen Mondengleiche Weisheit (tib. yeshe dawa) hat sie nach ihrer ersten tiefen Einsicht in Leerheit, in ihr Wahres Wesen, in die Natur des Geistes, in das Unfassbare gelobt, immer als Frau zu inkarnieren und auch als Frau zu erwachen. Das hat sie nach der Legende auch getan, und Frauen und Männer im alten Indien und Tibet und im heutigen Westen verehren sie, gerade auch wegen dieser revolutionären Haltung. In ihrem Weisheitsaspekt gilt sie als Mutter aller Buddhas und in ihrem aktiven Aspekt verkörpert sie das kluge Handeln aller Erwachten. Wir fanden es äußert zeitgemäß, als Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts, am Ort des Erwachens des männlichen Buddha Shakyamuni eine weibliche Buddha anzurufen und ihr Lob zu singen. Ihr Bild ist gleich zweimal als Relief an der zentralen Erleuchtungsstupa zu sehen. Vor ihrem Bild und auch vor dem Buddha des Mitgefühls, Avalokiteshvara, der in Indien und Tibet als männlich verehrt wird und hier ein einer ähnlicher Haltung abgebildet ist, sind immer frische Blumen zu finden. Es geht der Grünen Tara ein wenig wie der Jungfrau Maria in katholischen Gebieten. Nach der offiziellen Lehre ist sie nicht so wichtig, aber die Volksfrömmigkeit weiß besser Bescheid als die Theologen und die Mönchshierarchie. Ohne die Mutter aller Buddhas Tara und ohne die Gottesmutter Maria funktioniert das fromme Leben nur halb so gut.

Nach der Andacht der Grünen Tara sprechen wir über Erwachen. Was verstehen wir darunter? Was hat der Buddha in seinem Erwachen erlebt und erkannt? Was streben wir selbst an? Glauben wir, dass es heute noch Erwachte gibt? Wollen wir, wie es im Großen Fahrzeug des Buddhismus, im Mahayana heißt, wirklich erwachen zum Wohle aller Wesen? Was ist der Unterschied zwischen vergänglichen Erfahrungen von Einssein, Allverbundenheit, Seligkeit und tiefer Einsicht und dem unvergänglichen, „richtigen“ Erwachen? Eine Erklärung ist: Besondere Erfahrungen deuten auf das hin, was die Quelle von allem ist, sie vergehen aber wieder, wie alle Erfahrungen. Wir erwachen, wenn wir tief begreifen, dass diese erfahrbaren Qualitäten unser wahres Wesen sind, diesem begrifflichen Wissen dann so tief vertrauen, dass wir aus diesem Wissen heraus handeln können. Dann ist diese Körper-Geist-Verbindung, die hier in Bodhgaya auf dem Rasen sitzt, immer noch bedingt und sterblich, doch wir „kennen“ das Ungeborene, Nichtgeschaffene, das, was größer ist als dieser bedingte Körper-Geist. Das gibt der weiteren „Arbeit“ an der Reinigung und Verfeinerung von Herz und Geist zu immer tieferen Einsichten in die Bedingtheit allen Lebens eine andere Note. Nach dem Erwachen geschieht das mit immer mehr Vertrauen, Geduld und Leichtigkeit.

Alle Menschen, ja alle Wesen können erwachen und das Ungeborene erkennen, aber nur wenige werden dann zu Lehrern eine Zeitalters wie der historische Buddha Shakyamuni, der uns bis heute inspiriert. Wir fragen uns: Können nur Männer Vollkommen Erwachte (Pali samyak sambuddha) und Lehrbuddhas eines Zeitalters werden werden, wie alle Schulen des Buddhismus lehren? Müssen Frauen kurz vor dem „gewöhnlichen“ Erwachen sich schnell noch in einen Mann verwandeln, wie es Teile des Mahayana lehren? Manchmal müssen wir herzhaft lachen, welche Kapriolen die „erleuchteten Polemiken“ in Sachen Frauen und Erwachen in der Geschichte des Buddhismus geschlagen haben und auch heute noch schlagen. Immer wieder werden wir still und lassen die Stimmung des Ortes, die Vision des Erwachens, die Bedeutung des Erwachens für uns hier und heute auf uns wirken. Wir spüren es deutlich: An heiligen Orten gedenken wir nicht nur dessen, was vor langer Zeit in Zeit und Raum geschehen ist. Die Wertschätzung für das, was dem Buddha und seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern möglich war, öffnet unser Herz für die Inspiration des Erwachens, das auch wir und alle Menschen dieser Welt erleben können. Dieses Vertrauen fällt uns leicht, sieben Meter von dem Ort entfernt, an dem der Buddha unserer Zeit vor zweieinhalbtausend Jahren erwachte. Der nächste Buddha wird als der Große Liebende, Maitreya, verehrt. Vielleicht ist das eine Frau? Er oder Sie soll kommen, wenn die Verwirrung der Menschen so groß ist, dass wir nicht mehr ein und aus wissen. Man könnte glauben, es sei bereits so weit.

Die Pilgerorte

Zur kleinen Pilgerreise zu den heiligen Orten des Buddhismus gehören sein Geburtsort Lumbini (heute im Süden von Nepal), Bodhgaya, der Ort seines Erwachens, Sarnath bei Varanasi, der Ort der ersten Predigt über die Vier Edlen Wahrheiten und Kusinara, der Ort, wo der Buddha starb und ins Große Nirvana einging. Die weiteren Orte, die damals und heute gerne besucht werden sind: Kapilavastu, sein Heimatort; Uruvela bei Bodhgaya, die Stätte, wo der Buddha-in-spe harte Askese übte; Rajgir, wo er das Herzsutra und andere Texte des Mahayana lehrte und wo später das erste Konzil stattfand; Nalanda, wo er häufig Quartier nahm und wo es später riesige Klosteranlagen gab, deren Spuren heute archäologisch gut aufbereitet sind.

Viele der buddhistischen Stätten sind nach Beginn der muslimischen Herrschaft in Indien im 11.Jh. und mit dem Niedergang des Buddhismus in Indien verfallen und wurden erst im 19.Jh. wieder aufgebaut, einige sogar erst im 20.Jh. Die Infrastruktur ist nur wenig ausgebaut, und es gibt nicht überall hin Zugverbindungen, und die Straßen sind schlecht. Es ist daher schwierig, eine Pilgerreise auf eigene Faust zu organisieren. Zwei Reiseveranstalter mit buddhistischem Hintergrund bieten gut organisierte und betreute Reisen an. Auch mit dieser Unterstützung ist die Reise zu den buddhistischen Stätten eine große Herausforderung für Geduld und körperliche Verfassung. Am einfachsten zu besuchen ist Bodhgaya, die nahegelegene Stadt Patna hat Bahnanschluß und einen Flughafen.

Bodhgaya ist die erste Adresse für buddhistische Pilger und Pilgerinnen. Inzwischen sorgt eine große Anzahl von Hotels und Pilgerhäusern für einfache bis sehr komfortable Tage und Nächte am Ort des Erwachens. Trotz oder wegen der vielen Besucher aus aller Welt – alte tibetische Nonnen und junge Mönche, Männer und Frauen aus dem Westen, Pilger aus Japan, Korea, Sri Lanka, Thailand – behält dieser Ort eine besondere Atmosphäre. Vielleicht liegt es daran, dass die Mehrzahl der Besucher ganz offensichtlich praktizierende Buddhisten sind. Auf blankpolierten türgroßen Brettern werfen sich tibetische Buddhisten aus Ost und West insgesamt hunderttausendmal nieder. Viele rezitieren Mantras mit ihren Rosenkränzen aus 108 Perlen, andere intonieren leise Gebete und Gesänge. Auf den vielen kleinen Terrassen, die den 55 Meter hohen zentralen Tempel umgeben, sitzen Familien und kleine Gruppen, singen, rezitieren, unterhalten sich. Auch wenn viel fotografiert wird, spürt man doch die große Wertschätzung und Freude der Menschen, die hierher kommen.

Zur Autorin
Sylvia Wetzel, Jahrgang 1949, Abitur 1968, befaßt sich seit Ende der sechziger Jahre mit psychologischen und politischen Wegen zur Befreiung und seit 1977 mit Buddhismus, vor allem der tibetischen Tradition. Seit 1980 bewegt sie sich in der deutschsprachigen buddhistischen „Szene“, als Mitgründerin und langjährige Vorsitzende eines buddhistischen Zentrums mit angeschlossenem Buchverlag, als Übersetzerin und Kursassistentin, als „Funktionärin“ im buddhistischen Dachverband Deutsche Buddhistische Union, als Redakteurin der Lotusblätter und seit Ende der achtziger Jahre als buddhistische Meditationslehrerin, Vortragende und Autorin. Mit ihren kulturkritischen und feministischen Ansätzen ist sie eine Pionierin des Buddhismus in Europa.

Lesetipp
Hans Wolfgang Schumann: Auf den Spuren des Buddha Gotama. Eine Pilgerfahrt zu den historischen Stätten. Olten und Freiburg: Walter Verlag 1992. Mit vielen Abbildungen, Karten und Geschichten aus dem Leben des Buddha. Ein gut lesbarer und informativer Reisebegleiter. Ein Muss für alle Pilger.

Reiseveranstalter
Shambhala Tours & Meditation
Nibelungenstr. 40. 72768 Reutlingen. Fon 07121 678 505. Fax 07121 678 507. Mail info@shambhala.de

Neue Wege Reisen

Sakyadhita, Töchter des Buddha
Internationale Vereinigung Sakyadhita, Töchter des Buddha (Bodhgaya 1987), organisiert seit der Gründung Internationale Konferenzen, die das Leben der Nonnen und Laienfrauen in den Ländern Asiens nachhaltig verändert haben. www.sakyadhita.org und www.sakyadhita-europe.de